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Ein denkwürdiger Grenzübertritt

In diesem Jahr (2012) hatten wir uns eine besondere Reise ausgedacht: Vom sibirischen Barnaul am Ob wollten wir über den Tschuiski-Trakt, dem alten Handelsweg von Moskau über Hovd nach Ulanbaatar in die Mongolei reisen. Auf der russischen Seite reisten wir mit Sascha aus Barnaul und dessen deutschem Cousin Roman, auf der mongolischen Seite sollte uns ein mongolischer Freund abholen. Über die Grenze selbst wussten wir kaum mehr, als dass es einen „kleinen Grenzverkehr“ für Mongolen geben solle und wir dort eine Mitfahrgelegenheit finden könnten, um nach Tsagaan Nuur (den mongolischen Grenzort) gelangen zu können.

Der letzte russische Ort vor der Grenzstation Tashanta ist Kosh Agash. Hier wollten wir uns  schlau machen, wie der Grenzübergang praktisch bewerkstelligt werden kann. Leider kamen wir 10 Minuten zu spät: Die Grenzpolizei hatte um 12:00 für die Mittagspause geschlossen. Immerhin gelang es uns, folgendes herauszufinden: Unser deutscher Begleiter kann auf keinen Fall weiter in Richtung Tashanta fahren, da er kein Visum für die Mongolei hat. Unser russischer Freund kann einen Propusk beantragen, einen Passierschein, um uns zur Grenze zu bringen, die noch ca. 20 km entfernt war. Ob er allerdings einen solchen Propusk noch an diesem Freitag Nachmittag bekommen würde (Öffnungszeiten am Nachmittag war erst wieder um 15:00 Uhr) und er uns dann noch bis zur Grenze bringen könne, die um 17:00 zu schließen scheint, war mehr als fraglich. Mitten in diese Situation platze eine SMS unseres mongolischen Freundes: Das Auto sei kaputt und er könne uns nicht in Tsagaan Nuur abolen, sondern wir müssten nach Bayan Ölgij kommen. Das machte alles noch unsicherer und wir hatten Entscheidungen zu treffen.

So nahmen wir einen russischen Fahrer aus Kosh Agash, der eine ständige Genehmigung für das Grenzgebiet hat, um uns samt Sack und Pack bis zur Grenze bringen zu lassen. Roman steckte uns noch eine russische SIM-Karte zu, um anrufen zu können, wenn alles in Ordnung sei. So lange wollten sie in Kosh Agash warten. Wenige Kilometer hinter Kosh Agash wurden wir das erste Mal kontrolliert: Unsere Pässe wurden inspiziert und für in Ordnung befunden.

Eine halbe Stunde später und vorbei an russischen Grenzsicherungsanlagen und Radarstationen (welcher Feind wird hier erwartet?) setzte uns das russische Taxi an der Grenze ab und verschwand. Da standen wir nun.

Während Eike in Richtung Zoll wanderte, wo mehrere LKWs sowie zwei Enduro-Fahrer aus Böblingen und München auf ihre Abfertigung warteten, kam ein russischer, schon sehr mongolisch aussehender Offizier auf Sabine zu und fragte: „Tourist? Bayan Ölgij?“ (das ist die erste mongolische Provinzhauptstadt auf der anderen Seite), worauf Sabine auf fließend russisch: „Da, da“ (ja, ja) antwortete.

Dann aber schien das Schicksal seinen Lauf zu nehmen: Die Pässe wurde geprüft und für gut befunden, aber es fehlte ein Papier: unsere Meldebestätigung, die wir nach der Einreise nach
Russland in Barnaul hätten bekommen sollen. Da wir uns aber nicht auf der Polizei gemeldet hatten, sondern auf dem Postweg, unser russischer Freund Sascha aber für seine drei Gäste nur eine Quittung erhalten hatte, fehlte uns nun dieses so wichtige Formular (das im Übrigen handschriftlich in zweifacher Ausfertigung und fehlerfrei in kyrillischen Buchstaben ausgefüllt werden musste). Dasselbe war uns schon 6 Jahre zuvor in Irkutsk passiert, wo wir zwar das Formular vorweisen konnten, uns aber für die drei Nächte auf der Olchon-Insel im  Baikalsee die Meldestempel gefehlt hatten. Damals ließen wir schuldbewusst im Flughafen vor dem Abflug in die Mongolei eine Suada von Vorhaltungen einer überaus energischen Dame im wollenen Uniformrock über uns ergehen: Was denn unsere Regierung von Russland dächte, wenn wir verloren gingen und dann der Ort unseres Verschwindens seitens der russischen Regierung nicht nachgewiesen werden könne usw.

Diesmal war das Problem offenbar schlimmer. Der mittlere ausgestreckte Zeigefinger signalisierte zwar, dass es irgendwo sonst auf der Welt sicher Probleme noch größeren Ausmaßes gäbe, aber immerhin schlimm genug. Nun musste die SIM-Karte helfen. Anruf bei Roman in Kosh Agash, dieser übersetzte das Problem für Sascha, der mit seiner Quittung zur Grenzpolizei in Kosh Agash ging und nach vielem hin und her war der Grenzoffizier so gnädig, mit dem Ausdruck tiefsten Verachtung, aber perfekter Gestik des sich herablassenden Allmächtigen, unsere Visa für die Ausreise abzustempeln. Noch waren wir auf russischem Boden, aber das einzige, was wir jetzt noch durften, war auszureisen. Und wir hatten keine Ahnung, wie wir das bewerkstelligen würden.

Wie von Geisterhand war dieses Problem aber längst von eben diesem Grenzoffizier für uns gelöst worden: Neben uns hielt ein russischer Jeep mit mongolischem Kennzeichen und einem mongolischen Kasachen als Fahrer: Gegen Entgegennahme unserer letzten russischen Rubel für die Fahrt bis Bayan Ölgij lud er unser Gepäck ein und fuhr zur russichen Zollkontrolle (penibelste Gepäck- und Passkontrolle), dann über das Niemandsland, auf dem urplötzlich der russische Asphalt der mongolischen Piste wich – offenbar am genau vermessenen Grenzpunkt, hin zum mongolischen Zoll. Dort wurden die Scanner für das Gepäck gar nicht mehr benutzt, wohl im Vertrauen auf die Sorgfalt der russischen Kollegen, sondern wir wurden durchgewunken und landeten in Tsagaan Nuur in der ersten Guanz (mongolischer Imbiss, einfaches Restaurant) unserer Reise: Sutai Tsai (mongolischer Milchtee) und einige Buuts (mongolische Teigtaschen mit Fleischfüllung). Gottseidank hatten wir Jahre zuvor unser mongolisches Restgeld nicht auf dem Flughafen ausgegeben. Dies kam uns nun zugute. Wir waren damit weit besser dran als die Kasachen, die ihre Verwandten in der Mongolei besuchen wollten, nun aber tanken mussten: Sie hatten weder Rubel noch mongolische Tugrik, sondern nur kasachisches Tengri. Wahrscheinlich bekamen sie das Benzin nur mit hohem Risikoaufschlag gegen diese Währung verkauft.

Noch während der Fahrt von der russischen Grenzkontrolle bis Tsgaan Nuur hatten wir versucht, eine Konservation mit dem Fahrer über die Fahrt zu führen: Tri Zag (drei Stunden) nach Bayan Ölgij – ein Nicken war die Antwort und so waren wir frohen Muts, noch bei  Helligkeit dort einzutreffen, unseren Freund zu treffen und den mongolischen Teil unserer Reise zu beginnen. Doch weit gefehlt: Aus unerfindlichen Gründen brachte der Fahrer uns zurück zur mongolischen Grenze, wo wir in die Kantine gesetzt wurden. Gerade war uns das Warten zu lange, als ein Herr erschien mit einer schriftlichen Botschaft unseres mongolischen Freundes: Dieser Mann würde sich nun um uns kümmern. Hatten wir nun plötzlich zwei Fahrer? Nun ging es in eine kasachische Jurte des neuen Mannes, dann in ein Nebengebäude dieser Jurte, wo wir längere Zeit ohne jede weitere Information blieben. Mittlerweile war es 20:00 und wir hatten keine Ahnung, was geschehen würde. War der Fahrer mit unserem Geld über alle Berge? Oder hat er es schon längst versoffen? Als Muslim sollte er das ja eigentlich nicht, aber immerhin war er ja auch Mongole? Gilt für diese Mischung das Alkoholverbot des Islam überhaupt? Allmählich –so dachten wir – müssten wir energisch werden. Die englisch sprechende Tochter des zweiten Mannes wurde befragt, wo der Fahrer sei. Wir fuhren durchs Dorf und erhielten zur Auskunft: Er koche gerade Abendessen – alles sei gut. Und tatsächlich: Eine halbe Stunde später fuhr der Jeep vor, unser Gepäck wurde eingeladen und wir konnten einsteigen:

Neben uns waren noch zwei würdige ältere Personen im Wagen. Vater und Mutter des kasachischen Fahrers. Er war nur deshalb an die Grenze gekommen, um seine Eltern abzuholen, die aus Kasachstan kamen, um die mongolische Verwandtschaft zu besuchen (Nach der Wende sind viele Kasachen aus der Mongolei nach Kasachstan ausgewandert und es gibt vielfältige Familienbande zwischen beiden Ländern. Es gehört zu den Geheimnissen der großen Politik, dass die Mongolei und Kasachstan durch einen wenige Kilometer breiten Streifen Russland voneinander getrennt, so dass die Kasachen auch immer über Russland fahren müssen, um ihre Verwandten zu sehen).

Tri Zag Bayan Ölgij – das hatte der Fahrer auch nicht als eine Frage nach der reinen Fahrzeit verstanden (bei seiner Fahrweise waren es auch nur eineinhalb Stunden), sondern bezeichnete die Zeit, die noch auf seine wichtigen Fahrgäste zu warten sei; Sabine und ich waren nur das Geschenk des Himmels, für diese Fahrt auch noch bezahlt zu werden. Kurz vor Bayan Ölgij wartete die ganze Familie am Straßenrand: sechs bis sieben Autos hatten sich versammelt: Söhne, Töchter mit Kindern begrüßten die beiden Alten und das Wiedersehen wollte kein Ende nehmen. Wir aber wurden an der Brücke am Stadtrand von Bayan Ölgij ordnungsgemäß bei unserem mongolischen Freund abgeliefert.

Eike Seidel
2012

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