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Namensfindung und -bildung in sozialistischer Zeit

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Zwischenüberschriften durch E. Seidel.

Traditionelle Namensfindung

Viele traditionelle Elemente der häuslichen Erziehung kommen beispielsweise durch jene Feiertage zum Ausdruck, mit denen kindliche Lebensabschnitte markiert werden. Der Ethnologe NJAMBUU beschreibt, dass ein Kind etwa 7­16 Tage nach der Geburt rituell gewaschen wird und bei dieser Zeremonie (chüüchdijn ugaalga) seinen Namen verliehen bekommt. Dazu versammeln sich, so der Autor, die nächsten Verwandten der Familie in der Jurte, und über der Kinderwiege werden kleine Spielsachen mit einer aus Filz ausgeschnittenen Fuchsgestalt befestigt.1 Dann schreiben die Anwesenden ein bis zwei Namen auf Zettel, die wie zusammengerollte Lose in ein Gefäß gesteckt und mit Gerste bedeckt werden. Der Name, welcher durch Schütteln des Gefäßes zuerst auftaucht, wird dem Baby dreimal zugeflüstert, und zwar, wenn es ein Junge ist, ins rechte und, wenn es ein Mädchen ist, ins linke Ohr. Erst danach wird der Name laut verkündet, alle Anwesenden gratulieren Mutter und Kind und über­reichen ihnen kleine Geschenke, bevor die Zeremonie mit Lobpreisungen und Wiegenliedern für das Baby ausklingt (NJAMBUU 1976: 125-131).

Neben dieser Sitte existieren noch andere Formen der Namensverleihung. ČAGDAA beschreibt, dass es früher auch üblich war, lamaistische Mönche zu bitten, einen Namen zu finden, der ein glückliches Schicksal verhieß. Bis heute ist es neben der profanen Sitte, dass der Vater oder Großvater den Namen aus­wählt und durch einen Verwandten verkünden lässt, z.B. auch verbreitet, Mädchen nach der Geburtshelferin (avsan eež bzw. ech bar ž avsan chün) zu benennen, die in einigen Gegenden traditionell als ,Erdmutter‘ (gazar ech) bezeichnet wird (ČAGDAA 2004: 67-68). Im 20. Jahrhundert verbreiteten sich u.a. aus diesem Grund russische Vornamen, da in der Mongolischen VR seit den 1930er Jahren Hebammen aus der UdSSR tätig waren. Waren deren Namen schwierig, gaben einige Familien dem Kind einfach den Namen Oros (Russe/Russin). Seit alters her üblich ist die Vergabe von geschlechtsneutralen Tabunamen, wie Nergüj (namenlos), Bibiš (ich bin es nicht), Enebiš (diese[r] ist es nicht), Terbiš (Jene[r] ist es nicht), Basbiš (auch nicht), Adilbiš (unähnlich), Chenčbiš (niemand) oder Chünbiš (kein Mensch), um böse Geister davon abzuhalten, die Kinder zu sich zu rufen. Andere, gleichfalls geschlechtsneutrale Namen verweisen auf die Geschwisterreihenfolge, indem das älteste Kind Uugan (Erstgeborenes) und das jüngste Otgon (Letztgeborenes) genannt wird. Beide Namen treten häufig in kombinierten Formen auf. Der letztere kann auch Ausdruck eines elterlichen Wunsches sein, und wenn er sich nicht erfüllt, tragen u.U. in einer Familie mehrere Kinder das Kompositum Otgon- im Namen.2 Das tatsächlich jüngste Kind verbleibt traditionell in der Jurte der Eltern, um dort das Herdfeuer (golomt) als Symbol der Generationenfolge vor dem Erlöschen zu bewahren. Bis heute bewahrt hat sich die Tradition, dass Kinder auch bei Krankheit oder Statuswechsel umbenannt werden können, um sie rituell zu stärken (vgl. dazu SZYNKIEWCZ 1989a: 196; NAMKHAINYAMBUU 2000: 48).

Sozialistische „Neuerungen“

Während der Zeit des Sozialismus etablierten sich neue Referenzen für die Namensverleihung, welche in Verbindung moderner und traditioneller Elemente originelle Formen von Hybridisierung hervorbrachten. SERŽEE zu folge erhielten ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges Kinder in der Mongolischen VR nicht einfach nur Namen sowjetischer Vorbilder (wie z.B. Čapajev, Gagarin, Molotov), sondern es wurden auch völlig andere Benennungen modern: So hießen damals viele Personen nach sozialistischen Feiertagen (z.B. Oktjabr, Majnbajar), nach modernen Institutionen (z.B. Muzej, Archiv), nach bürokratischen Phänomenen (z.B. Propusk, Apparat), nach Armeerängen (z.B. Soldat, Admiral) bzw. militärischem Strategievokabular (Mars, Front), nach Repräsentationen des Fortschritts (z.B. Motor, Diplom), nach modernen Berufen (z.B. Sofer, Direktor), oder nach geographischen Orten in sozialistischen Ländern (z.B. Chanoj, Bucharest). Der Autor verweist darauf, dass es sich bei dieser Art der Namensgebung um einen vorübergehenden Trend handelte, der dem damaligen Zeitgeist der Internationalisierung geschuldet war (ŠERZEE 1992: 89-97). Aus meiner Sicht verdienen vier von ihm nicht thematisierte, gleichwohl persistierende Phänomene Aufmerksamkeit, die Licht auf charakteristische Muster der kreativen Mongolisierung importierter Konzepte werfen:

(1)   Trotz der Verwendung von Internationalismen und russischem Vokabular war der Brauch, dass prinzipiell jedes Wort in einen Namen umgewandelt werden kann, selbst nicht importiert, sondern genuin mongolisch. Sogar unerfreuliche Alltagserscheinungen, wie das realsozialistische Schlangestehen (russ. očered), konnte in dem Personennamen Oočir seine mongolisierte Ausprägung finden. Hierbei mag eine Rolle gespielt haben, dass ein ähnlicher, aus dem Tibetischen übernommener Name (Očir) bereits verbreitet war; typisch ist al­lerdings die Anpassung an die mongolische Vokalharmonie und Phonetik. Aus diesem Grund traten auch russische Substantive in mongolisierter Namensform auf, wie z.B. Doočkoo (von russ. dočka – Töchterchen).

(2)    Eine sehr evidente Form von Hybridisierung sind zusammengesetzte Namen. Die Kombination zweier Wörter zu einem Namen war im Mongolischen ohnehin verbreitet, insofern lagen auch Zusammensetzungen aus einem russischen bzw. internationalen und einem mongolischen Teil durchaus nahe; originelle Beispiele hierfür sind Jaslisüren (von russ. jasli – Kinderkrippe) oder Fabrikjav.

(3)    Zuweilen traten bemerkenswerte Formen kreativer Übersetzungen auf. Beispielsweise wurde bei der Namenschöpfung Dolgoleti (von russ. dalgoletnij -langjährig) offenbar eine russische Variante des mongolischen Namens Urtnasan (langlebig) geschaffen, die im Russischen selbst gar nicht existiert.

(4)    Eine Mongolisierung war schließlich auch die Umwandlung von offiziellen Abkürzungen oder gar Initialen in seltsam klingende Personennamen. Besonders bizarre Beispiele hierfür sind Seeser (von russ. SSSR -UdSSR) oder Mels (gebildet aus den Initialen der Namen Marx, Engels, Lenin, Stalin).3

Anmerkungen:

1) Weil Säuglinge im Schlaf das Gesicht zum Weinen verziehen, bezeichnet man dies auf mongolisch als „unegčlech“ (etwa übersetzbar mit ,es fuchst‘). Nach dem Volksglauben erscheint dem Baby dann im Traum ein Fuchs, der es in Angst versetzen möchte. Die Filzfuchsgestalt an der Wiege soll ihn davon abhalten, indem sie den Anschein erweckt, dass dieses Kind bereits von einem anderen Fuchs „okkupiert“ ist. Eine ebenfalls übliche Praxis zum Schutz vor Dämonen ist es, kleinen Kindern mit Ruß eine vertikale Linie auf die Nase zu malen, sodass es von bösen Geistern irrtümlich für einen Hasen gehalten (char chalzan luulaj bolgoch) und in Ruhe gelassen wird (hierzu: OBERFALZEROVÁ 2003: 29).

2) Es gibt noch zahlreiche andere Kategorien der Namensvergabe, z.B. mit Referenz auf Zeitpunkte, Ereignisse, berühmte Personen, Gegenstände, Tiere USW., auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann.

3) Die Mehrzahl der Beispiele wurde aus SERŽEE (1992: 90-92) entnommen.

Zitierte Literatur

Čagdaa, Chochdojn Šurdaanchany (2004): Mongol ger büljin charilcaany ulanžlal šinečlel. Ulaanbaatar: Mönchijn Üseg.

Namkhainyambuu, Ts. (2000): Bounty from the Sheep. Autobiography of a herdsmen. <st1:city w:st=“on“><st1:place w:st=“on“>Cambridge</st1:place></st1:city>: The White Horse Press.

Njambuu (1976): Önöögijn mongol jos. <st1:city w:st=“on“><st1:place w:st=“on“>Ulaanbaatar</st1:place></st1:city>.

Oberfalzeroá, Alena (2003): The Use of Mongolian in the Perspective of Cultural Context. In: Jaroslav Vacek; Alena Oberfalzerová (Eds.) Mongolica Pragensia ’03 Etholinguistica and Ethnolinguistics in Synchrony and Diachromy. Prague: Charles University: 11-41.

Serżee, Ž.(1992); Mongol chünij ner. <st1:city w:st=“on“><st1:place w:st=“on“>Ulaanbaatar</st1:place></st1:city>: BNMAU-yn Šinžlech Uchaany Akademi Chel Zochiolyn Chüreelen.

Szynkiewicz, Slawoj (1989): Geburt, Hochzheit, Tod – Der menschliche Lebenszyklus im Brauchtum der Mongolen. In: Walther Heissig, Claudius C. Müller: Die Mongolen, Bd. 2 Innsbruck: Pinguin-Verlag; Frankfurt a.M.: Umschau-Verlag: 196-204.


Aus: Ines Stolpe: Schule versus Nomadismus? Interdependenzen von Bildung und Migration in der modernen Mongolei, Frankfurt 2008 (Peter Lang GmbH. Internationaler Verlag der Wissenschaften in der Reihe Europäische Hochschulschriften), Seite 79ff

Dr. Ines Stolpe ist Professorin für Mongolistik an der Universität Bonn.

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