Der oder die Ger?
Er sei der Herrscher über alle Völker, die in Filzzelten leben – so lautete der Machtanspruch von Dschingis Khan. und dieses Filzzelt oder besser: Mobilhaus aus Holz und Filz ist die geniale Behausung der Bewohner der kalten Steppen Zentralasiens.
Yurt ist ein türkisches Wort und bedeutet: „Land“ im Sinne von Landbesitz. Auch in Kirgisistan mussten wir uns den Unterschied zwischen dem „grauen Haus“, wie dort dieses Filzzelt heisst, und Yurt anhören: Denn Yurt ist der (temporäre) Wohnplatz einer mobilen Viehhalterfamilie, an den diese – und nur diese – im Verlauf des Weidezyklus zurückkehrt, um dort ihr „Graues Haus“ wieder aufzubauen. „Yurt“ bezeichnet also einen Ort, an dem aus Gewohnheit nur diese eine Familie oder Sippe Wohnrecht hat.
In ihrer Diplomarbeit (bei Professor Erich Lehner) schreibt Katherina Leonhartsberger zu diesem Thema: Fälschlicherweise wird in vielen Teilen der Welt das Wort „Jurte“ unter einer anderen Bedeutung verwendet. Die Überzeugung das mongolische Scherengitterzelt zu meinen, wird schnell auf die Probe gestellt. Das Wort „Jurte“ stammt von den Turksprachen ab und bedeutet im allgemeinen Heimat, Wohnheim, Behausung, Territorium, folglich das Gebiet, welches gerade bewohnt wird. In der türkischen Sprache heißt das eigentliche Scherenrahmenzelt ev / öy / üv.“ In der Mongolei wird es Ger genannt und bedeutet Zuhause oder nach Hause, in Russland ist sie unter Yurta und Kibitka bekannt und in Afghanistan wird das Gitterzelt Kherga genannt.
Doch gegen den Gebrauch des Begriffs Jurte für das Mobilheim und nicht den Wohnplatz lohnt es sich nicht anzuämpfen. Zu sehr hat sich dieser Begriff in Europa und Nordamerika durchgesetzt,
Die Jurte Zentralasiens
Den nachfolgenden Text veröffenltichen wir mit freundlicher Genehmigung von Prof. Erich Lehner vom Institut für Architektur- und Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege, an der Technischen Universität Wien. Zwischenüberschriften wurden von uns eingefügt.
Professor Lehner ist ein hervorragender Kenner außereuropäischer Bauformen. Er hat dazu eine Reihe von Büchern veröffentlicht. Hier eine Auswahl von derzeit im internet zugänglichen Quellen:
Bei nahezu allen Steppenvölkern Zentralasiens in Gebrauch
Die Jurte kann als die „klassische“ Bauform der Nomaden und Halbnomaden Zentralasiens bezeichnet werden. Wie das Tipi der nomadisierenden Indianer in den nordamerikanischen Great Plains wird die Jurte ebenfalls im allgemeinen Sprachgebrauch als „Zelt“ bezeichnet, was jedoch auch in diesem Fall nur als ethnologischer Begriff, nicht aber als bautechnisch-konstruktiver Terminus zutrifft.
Das Verbreitungsgebiet der Jurten sind die zentralasiatischen Hochebenen und Grassteppen vom Kaspischen Meer bis zur Mongolei, die von extremen Temperaturunterschieden des kontinentalen Klimas geprägt werden. Obwohl in diesem weitläufigen Gebiet unterschiedliche Ethnien leben – Kirgisen, Kasachen, Turkmenen, Usbeken, Mongolen – bietet der Bautyp der Jurte ein erstaunlich einheitliches Erscheinungsbild und zeigt nur geringfügige Varianten.
Die Lebensweise der Steppenbewohner wird von den jahreszeitlich stark wechselnden klimatischen Bedingungen bestimmt. Im Winter zwingen starke Winde und extreme Kälte zum Aufenthalt in witterungsgeschützten festen Lagern. Einzelne Clans lassen sich hier in genau festgelegten markierten Bereichen nieder, die mit Lehmmauern, Erdwällen oder Bretterzäunen abgegrenzt werden; innerhalb dieser Umfassungen stellt man Jurten auf oder errichtet feste, halb in den Boden eingetiefte Bauten für Menschen und Tiere. Wenn im Frühjahr die Regenfälle einsetzen, zieht man mit allem beweglichen Gut und den Tieren in die Weidegebiete und baut dort für mehrere Monate seine Jurte auf. Die Trockenheit des Sommers und der damit verbundene Mangel an Futtergras zwingt danach zu einem häufigerem Standortwechsel. Die Behausungen müssen mehrmals abgebaut, transportiert und wieder aufgebaut werden. Wenn im Herbst stärkere Regenfälle einsetzen, verbleibt man wiederum längere Zeit am selben Ort, bis man zu Winterbeginn wieder die festen Lager bezieht.
Die stark wechselnde Lebensweise von langfristigen und kurzfristigen Aufenthalten stellt spezifische Anforderungen an die Bauweise der Behausungen. Das Bauwerk muß einerseits befriedigende Wohnqualitäten während längerer Aufenthalte bieten, andererseits aber auch der zeitweilig stärkeren Mobilität seiner Bewohner angepaßt sein. Dabei spielt die Transportfähigkeit der Bauwerke naturgemäß eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu den Indianern Nordamerikas galten für die Steppenbewohner Zentralasiens allerdings von jeher wesentlich günstigere Voraussetzungen, da größere und stärkere Tragtiere zur Verfügung standen, wie Rinder, Pferde und Kamele. Dadurch war auch ein Transport mit Karren möglich, die das Mitführen voluminöser Gegenstände erlaubten. Die ausgeprägte Klassengesellschaft in Zentralasien bedingte allerdings sehr ungleiche Besitzverhältnisse und damit ungleiche Verfügbarkeit über Trag- und Zugtiere. Daher unterschieden sich die Jurten der Oberschicht von Jurten der Unterschicht; diese Unterschiede betrafen jedoch lediglich Größe und Ausstattung der Bauten, wirkten sich jedoch nicht auf die Art der Konstruktion aus.
Seit Jahrhunderten bewährt
Die Bauform von Jurten scheint sich über viele Jahrhunderte hinweg kaum verändert zu haben. Noch heute werden die Bauwerke in der gleichen Art und Weise errichtet, wie sie der flämische Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk beschrieb, der 1253 – 1255 eine Reise zum Hof des Mongolenfürsten in Karakorum unternommen hatte: „Die Jurte, in der sie schlafen, errichten sie auf einer kreisförmigen Scheibe[?] aus Rutenflechtwerk. Das Quergestänge besteht ebenfalls aus Ruten, die nach oben in eine ganz kleine Rundscheibe zusammenlaufen, und von dieser erhebt sich schornsteingleich ein halsförmiger Aufsatz. Dieses (Holzgerüst) bekleiden sie mit weißem Filz, den sie öfters auch mit Kalk oder weißer Erde und Knochenmehl tränken, damit er weißer glänzt“.
Es gibt allerdings Varianten in der Bauform zwischen den Jurten (Ger) in der Mongolei und den Jurten der weiter östlich gelegenen Regionen Zentralasiens. Während beispielsweise usbekische oder nordafghanische Jurten kuppelähnliche Dachzonen und einen stützenfreien Innenraum aufweisen, wird das mongolische Ger heute mit niedrigem Kegeldach und einem Innenstützenpaar errichtet.
Die über lange Zeiträume im Wesentlichen unveränderte Bauform der Jurte erklärt sich durch die optimale Anpassung des Bautyps an die regionalen Bedingungen; es war ein Bautyp, der nicht weiter verbessert werden konnte. Ausgeklügelte Systeme gewährleisten raschen Auf- und Abbau, sowie gute Transportabilität der Struktur; das Raumklima ist angenehm wegen des relativ großen Innenraums, der die Belästigung durch Rauch minimiert, sowie durch die beinahe hemisphärische Form der Jurte, die ein günstiges Verhältnis zwischen Volumen und Oberfläche bewirkt; und die vertikal stehende Wandzone erlaubt eine wesentlich günstigere Nutzung des Innenraums als bei vergleichbaren Bauten anderer Architekturtraditionen. Diese Vorteile erfordern allerdings aufwendigere konstruktive Maßnahmen. Aber auch dieser Mehraufwand konnte im Bautyp der Jurte optimiert werden.
Der Statiker ist begeistert
Die Skelettkonstruktion der Dachzone besteht aus geraden oder gebogenen Sparren, die man in den Ring des Dachaufsatzes einklemmt oder in vorgefertigte Löcher einhängt. Manchmal werden auch größere zusammenhängende Dachteile präfabriziert, indem man die Sparren mit Lederschlaufen an den zentralen Druckring bindet. Für den Transport werden sie zusammengeschoben, beim Aufbau aufgefächert. Den oberen Abschluß der Dachzone bildet das als gesamtes Element vorgefertigte „Deckrad“: An einem Druckring sind als Kreuzbündel gebogende Radialstangen befestigt, welche die Form einer Kugelkalotte bilden. Der Druckring ermöglicht einen konstruktiv sauberen Anschluß der Radialstangen, die hier geordnet angefügt können, anstatt in einem wilden Bündel wie beim Tipi zusammenzutreffen. In funktionaler Hinsicht gestattet der Druckring die Anordnung einer Rauchabzugsöffnung im Zentrum, also genau über der Feuerstelle und gestattet damit die perfekt zentralsymmetrische Anlage des Bauwerks.
Während die Scherengitterwände der Wandzone durch das Aufstellen in Kreisform elastisch verformt werden und durch diese Krümmung ihre Steifigkeit gewinnen, sind die Bauteile der Dachzone starre Elemente. Die seitlichen Schubkräfte am Fußkreis der Dachzone nehmen Zugbänder aufgenommen, die um den zylindrischen Wandteil herumgelegt werden.
- Die gesamte Konstruktion der Jurte läßt einen klar durchdachten statischen Aufbau erkennen. Wand- und Dachzone werden als unterschiedliche konstruktive Systeme ausgebildet, indem die Wand eine Diagonalversteifung aufweist, während das Dach sich radial aussteift. Durch die Verbindung von Wand und Dach rundum an allen Gitterpunkten erhält das Skelett eine zusätzliche Schalenwirkung, die durch übergreifend diagonal gespannte Gurte und einen horizontalen Spanngurt an der Verbindung von Wand- und Dachzone verstärkt wird.
- Ihre endgültige Aussteifung erhält die Jurte schließlich durch die Deckung. Schwere Bahnen aus Filz, deren Gesamtgewicht 200 kg betragen können, werden über das Skelett gespannt, wobei man während der kältesten Witterungsperioden oft mehrere Schichten übereinander legt. Die Deckung kann bei warmem Wetter im unteren Bereich aufgewickelt werden, um eine stärkere Luftzirkulation im Inneren zu ermöglichen.
Standardisiert, Serienfertigung, zerlegbar, transportabel
Ein spezifisches Charakteristikum der Jurte ist die Art der Präfabrikation verschiedener Konstruktionsteile ihres Skeletts, die als vorgefertigte, teilweise zusammenklappbare Elemente transportiert werden: eine Maßnahme, die den Auf- und Abbau wesentlich beschleunigt. Im Vergleich mit dem Tipi etwa, dessen Skelett aus Einzelstangen besteht, die immer wieder neu zusammengebunden werden müssen, zeigt sich hierin ein deutlich höheres Entwicklungsstadium des Bautyps Jurte
Das Wandskelett der Jurte wird als Gitterkonstruktion ausgeführt, resultierend aus der Notwendigkeit, die Wandzone als steife Schale auszubilden, da sie den Seitenschub der kuppelförmigen Dachzone aufnehmen muß (beim Tipi werden die Kräfte direkt über die Sparren-Stangen in den Boden abgeleitet). Um den Arbeits- und Zeitaufwand beim Auf- und Abbau zu minimieren, fertigt man die Teile der Gitterwand als zusammenklappbare Scherengitter vor, indem die Gitterkreuzugen als Gelenke mit verknoteten Lederbändern ausgebildet werden. Diese Gitterelemente weisen dadurch jene Elastizität auf, die nötig ist, um bei der Aufstellung im Grundrißkreis gebogen zu werden; im zusammengeklappten Zustand ebenflächig und schmal, nehmen sie beim Transport nur geringen Platz in Anspruch. Im Allgemeinen werden für die Wandzone 4 – 6 solcher Gitterelemente benötigt, die man aneinander bindet. Einen Teil läßt man dabei für die Türöffnung frei, in die man in früheren Zeiten einen Filzvorhang hängte, die heute aber oft mit einer Holztür verschlossen wird.
Das Zentrum der mongolischen Welt
Über ihre Funktion als Wohn- und Schlafplatz weit hinausgehend, besitzt die Jurte hohe symbolische Qualitäten durch der Einbindung in kosmische Vorstellungen, der Einbindung in Natur und Leben. Die Idee des Zentralraums als Wohnstätte der Familie wird zum Symbol des Zentrums im kosmischen Raum; um die Feuerstelle als Zentrum des Innenraums bewegt man sich im Uhrzeigersinn kreisend, symbolisch den Kreislauf aller Dinge nachvollziehend. Die sterile Auffassung eines „perfekten“ Zentralraums, in dem alle Bereich rundum gleiche Wertigkeiten besitzen, ist in der Jurte allerdings nicht verwirklicht, da sie auch nicht kosmischen Gesetzmäßigkeiten entspräche, wie dem Sonnenlauf mit seinen unterschiedlichen Wertigkeiten von Morgen-Mittag-Abend-Nacht, oder dem Lauf des Lebens mit den Phasen Geburt-Jugend-Alter-Tod. Die Hauptachse des Zentralraums, gebildet durch den Eingang, spielt eine wichtige Rolle in der Symbolik des Bauwerks und schafft unterschiedliche Wertigkeiten innerhalb des Raumes. Für die hierarchische Ordnung innerhalb der Jurte sind verschiedene Aspekte maßgeblich:
1) Zentrum: Die im Zentrum des Raumes gelegene Feuerstelle, die Wärme spendet und zur Bereitung der Nahrung dient, ist das Symbol der Erhaltung des Lebens, ebenso wie die darüberliegende Zentralöffnung, durch die Licht und Sonne ins Innere der Jurte dringen.
2) Distanz zum Eingang: Die Hierarchie der Platzeinteilung steht in direkter Beziehung zur Distanz vom Eingang; in der Nähe des Eingangs befinden sich die niederrangigen Plätze (Hirten, Arbeiter), der höchstrangige Platz liegt auf der Türachse, dem Eingang genau gegenüber (Kultschrein, Ehrenplätze für Gäste).
3) Bewegungsrichtung: Die Feuerstelle bildet den Mittelpunkt einer Kreisbahn, auf der man sich in der Jurte bewegt, um einen bestimmten Platz aufzusuchen. Die rituelle Bedeutung, die das Umschreiten eines geheiligten Bereiches in vielen Kulturen (besonders in Asien) besitzt, wurde hier in den Wohnbau der Jurte übernommen. Bei kultischen Handlungen bedeutet das Umschreiten eines Heiligtums dessen Verehrung; die Richtung folgt dabei immer dem Uhrzeigersinn, um dem zu Verehrenden die rechte Körperseite zuzuwenden, die in fast allen Kulturen als die „gute“ gilt. Zur Gewohnheit im kultischen Bereich geworden, ging dieses Verhalten auch auf andere Bereiche des Lebens über, und wirkt sich auch in der Bewegungsrichtung innerhalb der Jurte aus.
Zusammenfassend betrachtet, zeigen Jurten in ihrer baulichen Ausbildung die wesentlichsten Merkmale von Nomadenkulturen in besonders charakteristischer Art und Weise:
1) Leichtes Baumaterial: Die Skelettkonstruktion bietet eine Minimierung des Gesamtgewichts.
2) Leichte Transportabilität: Die Bauten sind in mehrere Elemente zerlegbar, welche in Dimension und Gewicht optimale Transportmöglichkeiten gewährleisten, indem Größe und Schwere der einzelnen Bauelemente der maximalen Tragfähigkeit der Lasttiere angepaßt sind. Die Elemente des Skeletts (Scherengitter, Sparrenstangen etc.) können zusammengeklappt oder gestapelt werden, die Deckungselemente (Filzbahnen) werden in Rollen transportiert.
3) Rasche Montage und Demontange: Für den raschen Auf- und Abbau darf die Struktur nicht in zu viele Einzelelemente zerlegt sein; die Vorfertigung größerer Wand- und Dachteile beschleunigt hier wesentlich den Auf- und Abbau der Jurte. Größe und Gewicht der Einzelelemente, abhängig von der bestmöglichen Ausnutzung der Lasttiere, sind bei der Jurte optimal gewählt. Ein weiteres Charakteristikum von Bauten nomadischer Kulturen ist ebenfalls in der Jurte deutlich ausgeprägt: Das Skelett besitzt keine feste Verbindung mit dem Untergrund. Die einzige Fixverbindung mit dem Boden geschieht über Sekundärelemente, nämlich Pflöcke, mit denen die Seilabspannungen im Boden verankert werden.