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Dittmar Schorkowitz:

„Wenn der Heulende am Blökenden herumkaut …“

Personennamen, Personennamengebrauch und Verwandtschaftsbeziehungen bei den Kalmücken

Der Titel ist ein Rätsel: Was hat ein „Heulender“ und ein „Blökender“ mit Personennamen zu tun? Es heult doch der Wolf und es blökt das Schaf – und wenn der Wolf auf dem Schaf herumkaut, dann wurde es ganz offensichtlich gerissen …

Mit diesem Rätsel entführt uns Dittmar Schorkowitz in die Namenswelt der Kalmücken, einem kleinen westmongolischen Volk, das mit heute etwa 160.000 Angehörigen in der Republik Kalmückien seit etwa 300 Jahren am rechten Wolgaufer in der russischen Föderation lebt.

Für den wissenschaftlich arbeitenden Forscher ist das Buch eine umfassende Einführung in die Welt der Kalmückischen Namen. Für ihn liefert Schorkowitz, hervorragender Kenner der kalmückischen Kultur, Geschichte und Sprache, eine Vielzahl von Ableitungen der Namen oder von Umformungen nicht-kalmückischer Namen in die Vokalharmonie der mongolischen Sprache. Der diversen kulturellen und historischen Quellen der Kalmückischen Namen werden ebenso behandelt wie der Zusammenhang zwischen Namen und den Verwandtschaftsbeziehungen, die in der mongolischen Tradition sieben Generation umfasst.

Für den interessierten Leser aber bietet der Band lebendige Einsichten in die Bildung von Namen überhaupt, ein Prozess, der heute nur noch in wenigen Kulturen lebendig ist. Dabei mag eine Rolle spielen, dass der tibetische Buddhismus wie kaum eine andere Weltreligion ältere Formen von Religion wie z.B. den Schamanismus oder animistische Vorstellungen. in sich aufgenommen hat, in der Namen nicht aus einem festgefügten Katalog von Göttern, Namenspatronen oder ihres Inhalts beraubter vorkirchlicher Namen entnommen werden, sondern aktuell immer wieder erfunden werden können.

Der Name Kalmücken selbst ist eine wahrscheinlich türkische Fremdbezeichnung, die seit dem späten 15. Jahrhundert belegt ist: Sie bezeichnet die „Zurückgebliebenen“, sozusagen die „Hinterwäldler“, also die, die nicht den Islam als vorherrschende Religion der eurasischen Steppe übernommen haben. Bis heute sind die Kalmücken mehrheitlich lamaistische Buddhisten. Verschiedene Stämme der westmongolischen Oiraten (Torguten, Derbet, Coros, Choshut) hatten sich nach dem Zerfall des dsungarischen Reiches nach Westen aufgemacht, um an der Grenze Russlands zu siedeln. Als Verbündete des Zaren gegen andere Steppenvölker überwiegend türkischen Ursprungs waren sie über die Wolga gekommen. Diese westlichen Kalmücken waren dann 1771 zurückgeblieben, als die östlichen zurück in Ili-Gebiet zogen. Sowohl die Zaren als auch die Sowjets verfolgten das Ziel der Assimilation der Kalmücken (wie auch der anderen nicht-russischen Völker) zu „Kulturrusssen“. Im zweiten Weltkrieg kämpften viele Kalmücken auf der Seite der deutschen Wehrmacht und 1943 wurden nahezu alle Kalmücken nach Sibirien umgesiedelt. Erst 1958 durften sie wieder in ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet zurückkehren. Heute ist die Republik Kalmückien ein Mitglied der russischen Föderation mit der Hauptstadt Elista und 330.000 Einwohnern, von denen etwa die Hälfte der Herkunft nach Kalmücken sind.

Doch nach diesem kleinen historischen Umweg zurück zu den Personenamen der Kalmücken. Wenn eine kalmückische Mutter von einem Trunkenbold oder einem Hundesohn spricht, so meint sie in vielen Fällen nicht ihren Ehemann, sondern ihr geliebtes Baby, dass sie mit solchen und vielen alternativen garstigen Namen benennt, um den Khan des Tods Ärlik zu täuschen. Bis das Kind „aus dem gröbsten heraus“ ist, wird der richtige Namen des Neugeborenen vielfach nur geflüstert.

Dieser richtige Namen wird dem Kind bei der Geburt von den Eltern gegeben (ins Ohr geflüstert), oft traditionell und angesichts zunehmender Religiosität wieder unterstützt von Geistlichen (Lamas). In diesen Namen finden wir die ganze Geschichte der Kalmücken in verschiedenen Linien wieder. Da ist zum einen die Welt des tibetischen Buddhismus, da finden wir eine Fülle von Sanskrit-Namen, aber auch Namen, die aus einer früheren kulturellen Schicht stammen, die gerne als Schamanismus oder Animismus bezeichnet wird. Hier können alle Gegenstände des Alltags, alle Tiere, Erlebnisse und sonstigen Erscheinungen in Namen umgemünzt werden. Speziell diese ursprünglichste Form der Namengebung ist in der Lage, alle gesellschaftlichen Umwälzungen produktiv zu verarbeiten: Flüsse, Gebirge, Tiere, Gegenstände des Haushalts, Wünsche und Hoffnungen der Eltern, der Name der Hebamme – es gibt nichts, was nicht zu einem Namen umgedeutet werden könnte und wird.

So gibt es Namen, die sich auf die Wanderungszeit der Kalmücken beziehen („Tscherks“: Tscherkesse, „Ermeni“: Armenier, „Baschkir“: Baschkire, „Oros“: Russe als Männername); viele türkische Namen wurde übernommen: Ismail, Akim, Idris usw.

Speziell die sozialistische Zeit erzeugte in Vielzahl von Personennamen, in denn sich diese „Neue Zeit“ widerspiegelt: „Traktor“, „Kombajn“ (Kombine: Erntemaschine, Mähdrescher), „Kolchoz“, „Technik“, „Stachan“ (Stachanowarbeiter, Bestarbeiter), „Social“ sind als Namen durchaus gebräuchlich. Es wurden sogar Abkürzung zu Namen umgeformt: „Kim“ (Kommunistische Jugendinternationale), „Mels“ (Marx-Engels-Lenin-Stalin), „Stalen“ (Stalin-Lenin). Schorkowitz führt sogar Namen an, die in der Erfahrung der stalinistischen Deportation (1943) entstanden sind: „Vaggon“, „Evakuac“.

Viele der Namen werden dabei zusammengesetzt und erinnern dann an das Kinderbuch, in dem Beine, Rumpf und Kopf verschiedener Tiere zu neuen Lebewesen zusammengesetzt werden können: Aus Sonne, Mond, Frieden als erstem Bestandteil und Schein, Glanz, Strahl, Blume als zweitem Bestandteil kann eine Vielzahl von Kombinationen entstehen: Sonnenschein, Sonnenglanz, Sonnenstrahl, Sonnenblume usw.

Dass die Standesämter dem Erfindungsreichtum der kalmückischen Kultur kaum folgen können, zeigt die erfasste Zahl der Namen: 1965 (7 Jahre nach der Rückkehr der Kalmücken aus der stalinistischen Verbannung) sollen es nur 170 registrierte Namen gewesen sein, während für 19834 1.740 Namen, 1987 dann etwa 2.500 Namen nachgewiesen sind, jeweils mit einem Verhältnis von 4 zu 1 zugunsten der Männernamen.

Alle diese Namen sind Eigennamen. Die uns geläufige Einteilung in Vornamen und Nachnamen mit der Einschränkung des Vornamengebrauchs auf vertraute Verhältnisse und des überwiegenden Gebrauchs des Nachnamen in außerfamiliären Verhältnissen deckt sich in keiner Weise mit der kalmückischen (oder mongolischen). Zur Differenzierung zweier Personen gleichen Namens wird häufig der Eigenname des Vaters hinten angestellt (oder im Genitiv vorangestellt). So dass Frau Sonnenschein mit dem Vater Eisenheld dann entweder Sonnenschein Eisenheld oder des Eisenhelds Sonnenschein heißt. Einen Familiennamen Eisenheld gibt es nicht. Es ist am ehesten vergleichbar dem vor allem in Osteuropa geläufigen Vatersnamen (der in West- und Nordeuropa mit dem Suffix „sen“ dann aus dem Vatersnamen um Familiennamen mutierte). Eine ähnliche Entwicklung bei den Kalmücken fand erst im 20. Jahrhundert statt, als ein allgemeines Passgesetz unter Stalin das Führen von Namen, Vatersnamen und Familiennamen zur Pflicht machte. Hieraus resultiert bis heute vielfach eine doppelte Namengebung: eine offizielle, standesamtliche, und eine traditionelle, familiäre kalmückische.

In der Regel reicht im persönlichen Umkreis oder der nomadischen Kleinsiedlung die Benennung des Vaters zur Differenzierung zweier Träger desselben Namens durchaus aus, nicht aber in der Tradition der Steppe, die hochkomplex und patrilinear organisiert war und die Klärung der verwandtschaftlichen Beziehungen über Hilfeleistungen und Heiratsbeziehungen entschieden. Schon innerhalb der engeren Familie wurden die Eltern von den älteren Kindern anders bezeichnet als von den jüngeren. Sorgfältig wurde in der patrilinearen Organisation zwischen den Kindern der Tochter und denen des Sohnes unterschieden. Die erste Ehefrau und ihre Nachkommenschaft haben andere relative Verwandtschaftsbegriffe als die der ersten Ehefrau; deren Kinder aus erster Ehe wurden von denen der zweiten, adoptierte von leiblichen Kindern unterschieden. In einer derartig über Familienbeziehungen strukturierte und über die Ehrfurcht vor dem Lebensalter bestimmte Gesellschaft kann über Anredeformen und Einordnungen in die Abstammungsverhältnisse eine eindeutige Zuordnung der Träger gleichen Namens hergestellt werden, wobei mit der Benennung der Person immer auch ein relatives Macht- und Ansehensverhältnis dokumentiert wurde.

Diese genealogische Einordnung des Namensträgers findet sich auch im europäischen Adel wieder, ist also gar nicht so exotisch, wie es den Anschein hat: Wer heute den „Gotha“ aufschlägt, wird weniger die einzelnen Personen des dort anachronistisch katalogisierten „Hochadels“ finden, sondern deren Einordnung in höchst komplexe Verwandtschaftsbeziehungen.

Dass die Frau, die außerhalb ihrer eigenen Abstammungslinie heiraten muss, dann vielfach einen neuen Namen bekommt, ist wahrscheinlich weit verbreitet. Eigentümlich für die Kalmücken (wie für die Mongolen insgesamt) aber ist die Tabuisierung von bestimmten Begriffen und Namen. So spricht die Frau von ihrem Ehemann häufig nur in Umschreibung („mein Mensch“) und umgekehrt spricht er von ihr als „die Person, die in die Jurte gekommen ist“ oder in anderer Umschreibung. Der magische Gehalt von Namen verbietet es insbesondere den Frauen, eine ganze Reihe von Begriffen überhaupt zu verwenden. Ein Schwager, in dessen Namen der Begriff „Axt“ auftauchte, verbot den Begriff „Axt“ überhaupt für den Gegenstand zu benutzen, ein Schwiegervater, in dessen Namen ein Hengst aufscheint, muss alternativ benannt werden, beispielsweise als Pferd. Und so löst sich das Rätsel des Buchtitels auch auf: Wenn in einer Siedlung Männernamen in Gebrauch waren wie Wolf, Schaf, Fluss und Schilf, so war der Gebrauch dieser Worte zumindest für die Frauen auch für die Dinge selbst verboten. Sie hatten ihre eigene Sprache zu entwickeln, in der die Beobachtung des Tatbestands, dass der Wolf am Fluss ein Schaf reißt, dann folgendermaßen ausgedrückt wurde: „Der Heulende kaut beim diesseits Fließenden an den wachsenden Wurzelstöcken auf einem Blökenden herum“

Und wenn das Ehepaar beschließt, dass mit diesem Kind nun die Familienplanung abgeschlossen sei, so wird es den Geistern im Namen des Kindes mitgeteilt: „Bolcha“ (genug), „Otchon“ (jüngster), „Adyk“ (letzter), „Šavchar“ (Rest) oder „Sjul“ (Ende) werden als Hälfte des Namens verwendet – mit dem Ergebnis, dass es mitunter mehrere Geschwister mit diesem Namensbestandteil gibt, bis die Geister ein Einsehen hatten.

Für Wissenschaftler, die sich mit den Steppenvölkern beschäftigen, eine unerlässliche Publikation zur Namenbildung. Für den an Steppenvölkern interessierten Laien nach anfänglichen Hürden der wissenschaftlichen Terminologie eine interessante und mitunter vergnügliche Lektüre mit vielen Aha-Effekten, was die vordergründige Selbstverständlichkeit des eigenen Namens anbelangt.

Eike Seidel, 2010

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