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Die Produktivität des Negdel

von Marvin Goldstein/Cynthia Beall

aus dem Buch: Die Nomaden der Mongolei – Eine Hirtenkultur Zwischen Tradition und Moderne, Nürnberg 1994.

Als wir sie 1990 kennenlernten, waren die Nomaden von Most mit ihrem Negdel sehr zufrieden und das war gut zu verstehen. Bei diesem ersten Besuch waren wir von der Tatsache überrascht, dass die Nomaden eine sehr sichere Existenz hatten, die ihren Bedürfnissen und Erwartungen entsprach. Grundnahrungsmittel wie Mehl und Reis, aber auch Luxusartikel wie Bonbons und Kekse waren immer zu haben, entweder im Laden der Brigade oder im Distriktzentrum. Diese Läden hatten auch andere importierte Waren auf Lager: ostdeutsches Sonnenblumenöl, bulgarische Erdbeermarmelade, ungarisches Ketchup, georgischen Ziegeltee, russischen Würfelzucker (aus kubanischem Zucker) sowie Stoffe und Brokat aus Russland und China. Die Nomaden waren finanziell in der Lage, all diese Waren zu erwerben. Ein seltenes Stück wie beispielsweise ein dekorativer Wandteppich war im Nu verkauft. Etliche Nomadenhaushalte hatten russische und tschechoslowakische Motorräder gekauft, und einige wenige besaßen sogar neue, tragbare und benzinbetriebene Honda- und Yamaha-Stromerzeuger. Die Gastschalen der Nomaden waren mit gekauften und selbstgemachten Esswaren reich gefüllt, und ihre Feiern und Zeremonien waren verschwenderische Veranstaltungen mit einem überaus üppigen Nahrungsangebot. Die Nomaden hätten sicherlich gerne mehr Fabrikerzeugnisse, eine bessere Stromversorgung und höhere Löhne und Renten gehabt, obwohl sie ein angenehmes und sicheres Leben führten.

Ein Blick auf ihr Einkommen macht das verständlich. 1989 verdiente ein Durchschnittshaushalt in der Brigade, die wir untersuchten, mit den kollektiveigenen und privaten Tieren etwa 8500 Tugruk jährlich (5,6 Tugruk entsprachen damals einem US-Dollar). Darüber hinaus war der Wert des Fleisches und der Milchprodukte, die ihnen ihre eigenen Tiere zum Verzehr lieferten, beträchtlich, eine sechs- bis siebenköpfige Familie schlachtete zum Beispiel im Jahr etwa 20 Schafe und Ziegen und ein Yak, was zusammengenommen einem Bargeldwert von zirka 4000 Tugruk entsprach.

Im Vergleich dazu verdiente ein Kellner in der Hauptstadt 1990 etwa 5000 und ein junger Schullehrer etwa 7800 Tugruk im Jahr. Die meisten Haushalte in Ulaanbaatar verdienten doppelt so viel, da Mann und Frau normalerweise arbeiten gingen, nur hatten die städtischen Haushalte auch höhere Ausgaben, denn sie mussten für Miete, Gebrauchsgüter (zusammen etwa 1500 Tugruk) und all ihre Lebensmittel aufkommen.

Das Einkommen der Hirten lässt sich einschätzen, wenn man es mit den tatsächlichen Lebenshaltungskosten vergleicht. Dies taten wir 1990 für eine Reihe von Hirten in Most und stellten fest, dass ein vier bis sechsköpfiger Haushalt (zwei Erwachsene und drei oder vier Kinder) zwischen 1000 und 3000 Tugruk für wesentliche Dinge wie Mehl, Zucker, Tee, Wodka, Tabak, Öl zum Kochen, Süßigkeiten. Seife, Zahnpasta und Kleider ausgaben. Folglich lebten die meisten Nomaden in Most, verglichen mit den Stadtbewohnern und gemessen am örtlichen Lebensstandard, sorgenfrei. Deshalb überraschte es uns nicht, als wir entdeckten. dass einige Nomadenfamilien größere Guthaben bei der örtlichen Bank besaßen.

Das Bareinkommen war nur einer der Vorteile, die die Viehzüchter durch das Hirtenkollektiv hatten. Wie die sozialistischen Arbeiter in den städtischen Fabriken und Büros hatten sie bezahlte Ferien, erhielten alle zwei Jahre neue Sommer- und Winterkleider und kamen in den Genuss einer Vielzahl von Sozialleistungen wie Kindergeld, freie Schulbildung, Mutterschaftsurlaub, Rente, kostenlose medizinische Versorgung und freien Krankenhausaufenthalt. Viele Dritte-Welt-Länder behaupten von sich, kostenlose Schulbildung und Gesundheitsfürsorge anzubieten, aber wie die Erfahrung zeigt, entspricht dies in ländlichen Gebieten meistens nicht der Realität. In der Mongolei jedoch war das anders. Das Schulsystem funktionierte. Die Mongolische Volksrepublik hatte 1925 die allgemeine Schulpflicht eingeführt und 1940 existierten bereits mehr als 300 Grund- und höhere Schulen. Ende der fünfziger Jahre fand man überall in Land Grundschulen, und 1990 gab es fast kein Analphabetentum mehr.

Um dies zu ermöglichen, wurden in allen ländlichen Gebieten Internate eingerichtet. Wobei die Regierung die Kosten für die Ausbildung einschließlich Unterkunft und Versorgung trug. Die Regierung ermöglichte den Kindern, das Internat zu besuchen, indem sie durch die Regelung, jedem Haushalt nur eine Negdel-Tierart zum Hüten zu überlassen, die Kinderarbeit abwertete. Gleichzeitig wurden die Kinder angespornt, gute Leistungen zu bringen, denn sie wussten, dass sie damit auch gute Aussichten auf eine weitere Ausbildung und folglich auch auf gute Anstellungen hatten.

In den Nomadenlagern fand man daher während des Schuljahres keine Kinder im schulpflichtigen Alter zwischen acht und achtzehn. An den Wochenenden kamen sie nach Hause; ein großer Lastwagen mit offener Ladefläche rumpelte von Lager zu Lager und spie aufgeregte Schulkinder aus, die mit ihren Taschen und Kisten herunter sprangen und dann Hand in Hand mit ihren Müttern nach Hause spazierten. Oft kamen sie in ihrer Schulkleidung an, die sie aber rasch gegen einen Deel eintauschten, um wieder schnell in den Alltag des Nomadenlebens einzutauchen. Der Schulbesuch halte sie dem Nomadenleben keineswegs entfremdet.

Dieses Erziehungssystem ermöglichte den Kindern der Viehzüchter den gesellschaftlichen Aufstieg; gleichzeitig brachte es gelernte Arbeiter für die mongolischen Zentren hervor, die sich in den letzten drei Jahrzehnten sprunghaft entwickelt hatten. Gute Schüler wurden an berufsbildende und technische Schulen, ja sogar an weiterführende Schulen gesandt und dann Arbeitsstellen in den Städten, Provinzhauptstädten oder Distriktzentren zugeteilt. Neue Industriestädte wie Darchan, das in den sechziger Jahren gegründet worden war, und Erdenet, 1976 um die bedeutenden mongolischen Kupfer- und Molybdänminen herum angesiedelt, benötigten Arbeiter und Angestellte. Tatsächlich wuchs die Gesamteinwohnerzahl der mongolischen Städte in nur 23 Jahren auf 983.100 Personen an. Aber trotz des effektiven Schulsystems mangelte es der Mongolei stets an technisch geschultem Personal, und Zehntausende von Russen und Ostdeutschen lebten und arbeiteten in den mongolischen Städten und Bergwerkszentren. Viele Mongolen studierten auch in der Sowjetunion und in Osteuropa. 1985 besuchten zum Beispiel ungefähr 11.000 Mongolen Schulen im Ausland. Das entspricht etwa 1,4 Millionen Amerikanern, die im Ausland studieren. Die Auswirkungen des Erziehungs- und Urbanisierungsprogramms waren enorm. Wir befragten die Frauen zweier Hirtenbrigaden in Most und erfuhren, dass 52 Prozent ihrer Kinder, die neunzehn Jahre und älter waren, nicht als Hirten lebten und arbeiteten. Zwanzig Prozent von ihnen lebten in Distriktzentren, zwölf Prozent in Provinzhauptstädten, zwölf Prozent in einer der drei Städte der Mongolei, und acht Prozent waren in der Armee oder anderswo beschäftigt. In der Tat waren die meisten Leute, die wir in Ulaanbataar trafen, auf dem Land aufgewachsen. Zunehmende Hygiene war ein weiterer Erfolg des Erziehungssystems. Besucher aus dem Westen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren in die Mongolei kamen, erwähnten, dass die hygienischen Verhältnisse der mongolischen Hirtenlager damals sehr zu wünschen übrigließen. Most jedoch war bemerkenswert sauber — Baden, Zähnebürsten und Wäschewaschen waren hier an der Tagesordnung. In vielen Ger fanden sich kunstvoll bestickte Wandbehänge mit Taschen für Zahnbürsten und Seifenschalen. Den Nomaden von Most stand ebenfalls ein gut entwickeltes Gesundheitssystem zur Verfügung. Die medizinische Versorgung der Mongolei ähnelte der der Sowjetunion und litt wie diese unter einem Mangel an Medikamenten und hochtechnischen Apparaten. Dennoch konnten die Nomaden im Krankheitsfall Ärzte und andere Spezialisten aufsuchen. Das Distriktzentrum von Most verfügte über ein kleines Krankenhaus mit zwei Ärzten (von denen einer auf Kinderheilkunde und der andere auf Geburtshilfe und Gynäkologie spezialisiert war) sowie mehrere Krankenschwestern und Pfleger. Jede Brigade besaß einen medizinischen Assistenten, der in einer höheren Fachschule eine diesbezügliche Ausbildung erhalten hatte. Die Ärzte besaßen einen Jeep und machten in dringenden Fällen Hausbesuche. Wenn es nötig war, wurden die Patienten ins Krankenhaus nach Most gebracht und in wirklich komplizierten Fällen in die Provinzhauptstadt oder sogar nach Ulaanbaatar. Viele Viehzüchterinnen hatten schwere Geburten im Provinzkrankenhaus von Chowd hinter sich, und eine Frau war eigens zur Operation eines gebrochenen Hüftgelenks nach Ulaanbaatar geflogen worden. Sie war beim Viehhüten auf dem Eis ausgerutscht und gestürzt. Die ärztliche Behandlung und die Krankenhausaufenthalte waren für alle Hirten kostenlos, und Kinder unter fünf Jahren und Rentner wurden darüber hinaus umsonst mit Medikamenten versorgt. Obwohl das, was verfügbar war, sicherlich nicht mit unseren Maßstäben gemessen werden kann. Dass die Nomaden diese Dienste wirklich erwarteten, wurde uns eines Nachmittags auf einer Negdel-Mitgliederversammlung eindrücklich vor Augen geführt. Mit den Tränen kämpfend beschuldigte ein Vater den Distriktarzt, er sei für den Tod seines Kindes verantwortlich, weil er nicht sofort, als nach ihm gerufen worden war, das Lager besucht habe. Der Arzt entgegnete, er habe gerade einen anderen Hausbesuch gemacht, als die Nachricht kam, und sei im Anschluss daran sofort zum Lager des Anschuldigers gefahren. Die meisten Versammelten gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden, nicht jedoch der Vater.

Die Krankenhausgeburt stellt eine weitere bedeutende Errungenschaft des Gesundheitssystems in Most dar. Unsere Geburtenforschung zeigte, dass jahrzehntelang beinahe alle Nomadenfrauen im Krankenhaus von Most niedergekommen waren. „Wenn eine Frau schwanger wird“, erklärte uns eine Frau, „Wird sie alle drei Monate gründlich untersucht und es werden Vorkehrungen getroffen.“ Ungefähr eine Woche vor ihrer Niederkunft wird ein Jeep zu ihr geschickt, um sie nach Most zu bringen, wo sie im örtlichen Gästehaus wohnt und auf die Geburtswehen wartet. Frauen, die in Geschäften und in Büros arbeiteten, erhielten 45 Tage vor und 56 Tage nach der Geburt bezahlten Mutterschaftsurlaub. Etliche Male wohnten wir zusammen mit solchen Frauen im Gästehaus von Most. Es war etwas ungewöhnlich, Viehzüchterinnen, die normalerweise in ihrer eigenen Ger und im Lager herum hantierten, dabei zu beobachten, wie sie untätig herumsaßen, sich entspannten und sich auf die Geburt vorbereiteten. Obwohl die Leistungen des Gesundheitswesens in sozialistischen Ländern wie Russland und der Mongolei verglichen mit der medizinischen Versorgung in den USA und anderen westlichen Ländern im Allgemeinen abschätzig beurteilt werden, ist es dennoch bemerkenswert, dass die Viehzüchter selbst in solch abgelegenen Gemeinden wie Most Zugang zu ärztlicher Behandlung hatten und zudem kostenlos. Ebenso bezuschusste der Staat die Unterhaltskosten für Kinder. Die Mongolei verfolgte eine geburtenfreundliche Bevölkerungspolitik, wobei Frauen mit unzähligen Verlockungen dazu angespornt werden sollten, viele Kinder zu bekommen. Kostenlose Schwangerschaftsvorsorge, Entbindung und Mutterschaftsurlaub waren die ersten augenfälligen Vorzüge. Unmittelbar nach der Geburt wurden die Mütter von der Regierung mit einem sogenannten „Wiege- und Milch“-Geld belohnt, und wenn der Säugling sechs Monate alt war, bekamen sie eine „Überlebens“-Vergütung. Wenn eine Mutter mehr als vier Kinder unter sechzehn Jahren hatte, erhielt sie alljährlich eine Geldprämie und durfte sich frühzeitig pensionieren lassen. Frauen erhielten auch Auszeichnungen für große Fruchtbarkeit: Der „Orden erster Klasse für erfolgreiche Mutterschaft“ wurde Frauen verliehen, die acht oder mehr Kinder, die nun älter als fünfzehn Jahre alt waren, großgezogen hatten, während der „Orden zweiter Klasse für erfolgreiche Mutterschaft“ Frauen verliehen wurde, die fünf Kinder bis zu diesem Alter aufgezogen hatten. Die Frauen waren stolz auf diese Auszeichnungen und kramten in ihren Koffern danach, ehe wir von der Familie Polaroidfotos machten, die wir ihnen als Abschiedsgeschenk überließen. Es war daher nicht verwunderlich, dass ein Viertel aller Frauen von Most zehnmal oder noch öfter entbunden hatte. Schließlich trug auch das erstaunlich gute Rentensystem zur positiven Haltung der Hirten gegenüber dem Negdel und dem Sozialismus bei. Anders als in anderen Dritte-Welt-Ländern bezogen die mongolischen Viehzüchter, Männer wie Frauen, Rente vom Staat. Viehzüchter hatten ab dem sechzigsten Lebensjahr Anspruch darauf, wenn sie 25 Jahre für das Negdel gearbeitet hatten und ab 55 Jahren, wenn sie 32 Jahre lang dafür gearbeitet halten. Frauen dagegen hatten schon mit 55 Jahren Anspruch auf Rente, vorausgesetzt sie hatten zwanzig Jahre gearbeitet. Sie konnten aber bereits mit 36 Jahren in Rente gehen, wenn sie vier Kinder zur Welt gebracht und 20 Jahre lang gearbeitet hatten. Viehzüchter, die nach der Pensionierung auch weiterhin Negdel-Tiere hüteten, bezogen zu ihrer Rente noch einen Lohn, wobei das größere der beiden Einkommen voll und das kleinere halb ausgezahlt wurde. Seit 1990 ermöglicht ein neues Gesetz die volle Auszahlung beider Einkommen. Die Rente richtete sich nach der Anzahl der Jahre, die ein Hirte gearbeitet hatte und nach seinem letzten Lohn. Die Rente war zwar nicht gerade üppig, aber im Durchschnitt doch angemessen. Zum Beispiel erhielten Rentner der Chudshirt-Brigade 1989 durchschnittlich eine Rente von 1400 Tugruk im Jahr zusätzlich zu den Nahrungsmitteln und den Produkten, die ihnen ihr eigenes Vieh lieferte. Das war durchaus noch im Rahmen des zuvor erwähnten Mindesthaushaltsgeldes von 1000 bis 3000 Tugruk, die ein fünf- bis sechsköpfiger Haushalt brauchte. Wenn Krankheiten ältere Personen dazu zwangen, zu den Kindern zu ziehen, erhielten sie weiterhin ihre Pension. Jeder Hirte plante die Rente ein und sie war für ihn selbstverständlich. Eine der ersten Fragen, die an uns gestellt wurden, kam von einer sechzig Jahre alten Frau, die wissen wollte, ob Landfrauen in den Vereinigten Staaten einen Anspruch auf Rente hätten. Leistungen dieser Art ließen die Mongolei weit vor anderen Dritte-Welt-Ländern wie beispielsweise China oder Indien rangieren.

Da der Staat die Hirten bislang mit derartigen Vergünstigungen bedacht hatte, waren alle davon überrascht, dass die mongolischen Politiker planten, das Kollektivsystem so schnell abzuschaffen und zur freien Marktwirtschaft überzugehen. Uns schien der Grund naheliegend: Die mongolische Wirtschaft war nicht produktiv genug, um dieses Wohlfahrtssystem beizubehalten. Der Lebensstandard der Nation konnte nur durch die Hilfe der Sowjetunion aufrechterhalten werden. Expertenquellen belegen, dass die Zuwendungen ungefähr 800 Millionen US-Dollar im Jahr betrugen — rund 400 Dollar für jeden Mongolen! Als die Mongolei 1990 eine Demokratie wurde, schuldete sie den Russen 10 Milliarden Rubel, was damals etwa sechs Milliarden Dollar entsprach.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetwirtschaft war die Mongolei auf sich selbst angewiesen und so in einer verzweifelten Lage. Das Land war jetzt gezwungen, sich mit seiner realen Produktivität (oder seinem Defizit) und seiner Planwirtschaft auseinanderzusetzen. Die Mongolei musste jetzt erfolgreich auf dem Weltmarkt konkurrieren oder ein rückständiges Land werden. Wie Zogt, der damalige Handelsminister in einem Zeitungsinterview erklärte, war dies nicht so einfach: „Heute“, sagte er, „haben wir das Potential, Exportgüter im Wert von 400 Millionen Dollar zu produzieren. Um aber die Importbedürfnisse früherer, Jahre abzudecken, müssen wir Waren im Wert von 1,2 Billiarden Dollar einkaufen, was vollkommen jenseits unserer Möglichkeiten liegt.“ (The Mongol Messenger, 3. November 1992, S. 3).

Der Grund für diese geringe Produktivität war uns nicht klar, und so sprachen wir darüber mit vielen Nomaden und Regierungsvertretern, einschließlich eines ehemaligen Brigadeführers, der uns 1990 in unserem Ger besuchte. Er hatte sich im Jahr zuvor nach einem Motorradunfall pensionieren lassen, fuhr aber schon wieder mit einem neuen leuchtend roten Motorrad über Land. Nachdem wir ihm unsere Gastschale angeboten hatten, erkundigten wir uns bei ihm, warum sich so viele Beamte über die geringen Leistungen der Kollektive beschwerten. „Der Staat hat Produktionsziele, aber bezahlt wird doch nach der Leistung, was ist also das Problem?“ Den Kopf schüttelnd, antwortete er: „Was ihr sagt, ist rein theoretisch gesehen richtig, aber in der Praxis funktioniert es nicht. Wir machten es uns sehr einfach. Es gab zum Beispiel keine größeren Strafen, wenn die Produktionsziele nicht erfüllt wurden; und der hohe Lohn fürs Hüten wurde auch ausgezahlt. Wenn der Ertrag (etwa an Wolle) des einzelnen Hirten, gemessen an den Produktionszielen, mittelmäßig bis schlecht war. Kleine Lohneinbußen wegen der Untererfüllung der Ziele fürchteten die Hirten nicht, weil sie die Existenz kaum bedrohten.“ Ein anderer Beamter erklärte uns später, dass die Staatsziele zudem sehr niedrig angesetzt waren, damit alle Hirten sie ohne weiteres erfüllen konnten.Die Hirten mussten sich daher für ein gutes Auskommen nicht überanstrengen. Eine durchschnittliche Leistung sicherte ihnen genug Einkommen, um die benötigten Grundnahrungsmittel und Fabrikerzeugnisse zu erwerben. Die Kollektivwirtschaft garantierte den Nomaden einen angemessenen Lebensunterhalt und gewährte — ohne sie zu hoher Produktivität anzuspornen — von der Geburt bis zum Tod soziale Sicherheit. Dieses System begünstigte in vielerlei Hinsicht die niedrige Produktivität.

Um verständlich zu machen, wie diese Vorgehensweise der Produktivität entgegenwirkte, muss man die Art und Weise der Entlohnung der Hirten erklären. Nehmen wir als Beispiel zwei Haushalte, von denen jeder 211 fruchtbare weibliche Schafe hütet. Um ihren Negdel-Verpflichtungen nachzukommen, mussten beide Haushalte eine Reihe von Produktionszielen einhalten und Milch, Fleisch, Wolle, Kaschmir und neugeborene Lämmer vorweisen. War ein Ziel erfüllt, erhielten sie zusätzlich zum staatlich festgesetzten Preis pro Einheit einen Bonus von zehn Prozent. Wenn sie die Ziele nicht erfüllten, mussten sie den prozentualen Anteil an der unerfüllten Einheit an das Kollektiv zurückzahlen.

Löhne wurden auch dann bezahlt, wenn das Negdel ein sehr schlechtes Jahr hatte, denn der Staat stellte den Kollektiven auch unter diesen Bedingungen ein Darlehen zur Verfügung. Darüber hinaus konnte die Strafe für Nichterfüllung der Produktionsziele oft dadurch umgangen werden, dass der Ausfall kurzerhand nichtkalkulierbaren Faktoren zugeschrieben wurde. So erzählte uns beispielsweise ein alter Hirte: „Stirbt ein Schaf, das ich hüte, lasse ich den Negdel-Veterinär kommen und bitte ihn, mir zu bescheinigen, dass es unter Umständen starb, für die ich nicht verantwortlich sein kann.“ Ein anderer Grund für die verminderte Produktivität ergab sich aus der Unterscheidung von privaten und kollektiveigenen Tieren. Obgleich alle Tiere zusammen gehalten wurden und, um eine Vermischung zu vermeiden, unterschiedlich gekennzeichnet waren, kam es dennoch vor, dass die Neugeborenen, die noch kein Brandzeichen trugen, leicht verwechselt wurden. So konnte ein Hirte, dessen eigenes Lamm gestorben war, es gegen ein lebendes des Kollektivs eintauschen und behaupten, das verstorbene Lamm habe dem Kollektiv gehört. Das Lamm wurde dann von einem Mutterschaf seiner eigenen Herde, dessen Lamm gestorben war, gesäugt.

Diese Ineffizienz wurde durch die Ideologie der Regierung gefördert, die die kapitalistische Konkurrenz und deren ausbeuterische Ziele durch den Abbau von Profit- und Marktmechanismen ausschalten wollte. Ziel der kommunistischen Planwirtschaft war es, bei gleichzeitiger Effizienz und Produktivität die Einkommensunterschiede und die Klassenhierarchie auszuschalten. Die Motivation für harte Arbeit und Erfolg sollte von den verinnerlichten sozialistischen Werten und dem „sozialistischen Wettbewerb“ gespeist werden. Sozialistischer Wettbewerb gründete auf dem Glauben, dass Mehrarbeit und Produktivität nicht über die Förderung des Wettbewerbsgeistes durch mehr Geld erreicht werden könnten, sondern vielmehr durch „sozialistische Ehrungen“ wie Medaillen, Titel und Preise. Dieses System motivierte sicherlich einige Hirten zu hartem Arbeiten, doch im großen und ganzen war es nicht sehr erfolgreich. Da keine höheren Standards und effektive Anreize im System verankert wurden, waren auch keine wesentlichen Unterschiede zwischen der Lebensqualität der Viehzüchter zu bemerken, die die Planziele übererfüllten, und jenen. Die sie nicht erfüllten. Die Vorstellung, dass es keine „arme Klasse“ geben sollte, bedeutete, dass selbst die faulen und unfähigen Hirten dem System entsprechend angemessen abgesichert werden mussten. Als die Regierung die Bedeutung der Produktionskraft erkannte, beklagten sich etliche Leiter von Kollektiven bei uns darüber, wie faul viele Nomaden seien und dass sie weder Verantwortung noch Risiken auf sich nehmen wollten.

Die Konsequenz dieses Systems war mittelmäßige Arbeit: Hirten, die gut leben konnten, verausgabten sich nicht. Die Kollektivwirtschaft war bezüglich der Abschaffung der großen Einkommensunterschiede und der ungleichen Verteilung des Besitzes, die in vorkommunistischer Zeit üblich war, erfolgreich gewesen, aber es gelang ihr nicht, die Produktivität der Viehzüchter anzuheben und die Herden zu vergrößern. Als die Kollektivierung im Jahre 1965 abgeschlossen war, besaß die Mongolei 23.834.000 Stück Vieh; 1990, 25 Jahre später, waren es nur 25.500.000 Stück. Trotz systembedingter Probleme mit der allgemeinen Produktivität waren die meisten Hirten mit ihrer Situation zufrieden. Sie wollten zwar einen höheren Lebensstandard, waren aber dem Sozialismus, der Revolutionären Volkspartei und dem Negdel gegenüber nicht feindlich gesonnen, da sie sich gut behandelt fühlten. Nur wenige dachten daran, dass es ihnen wahrscheinlich ohne Negdel besser gegangen wäre; trotzdem überraschte uns die starke Unterstützung der Revolutionären Volkspartei durch die Hirten.

Als die Mongolei 1990 eine Vielparteien-Demokratie wurde, bestand die demokratische Bewegung darauf, dass die Parteisekretäre überall im Land ihre Privilegien aufgeben und die von der Regierung erhaltenen Besitztümer zurückgeben sollten. In Most kam dieses Problem auf einer Parteimitgliederversammlung zur Sprache. Über eine Stunde lang wurde über die Privilegien des Parteisekretärs diskutiert, der über einen Jeep, ein Videogerät und eine große Anzahl von Tieren verfügte. Etliche Hirten kritisierten den Parteisekretär scharf. Ein Hirte sagte, er sei nicht besser als andere und solle keine Privilegien haben. „Er braucht keinen Jeep“, erklärte er. „Wenn er aufs Land will, um Propaganda zu machen, dann soll er reiten, wie alle anderen auch.“ Alle Anwesenden lachten herzhaft darüber, der Parteisekretär aber reagierte ziemlich emotional auf diese Kritik und entgegnete: „Ja, wir haben in der Vergangenheit viele Fehler gemacht, aber wir haben die Mongolei in den letzten 70 Jahren regiert, und wir sind auch diejenigen, die euch den Wohlstand, den ihr heute genießen könnt, ermöglicht haben.“ Als wir die Diskussion verfolgten, dachten wir, die Nomaden würden dafür stimmen, dem Sekretär allen Extrabesitz wegzunehmen. Doch zu unserer Überraschung ergab die Abstimmung, dass der Parteisekretär alles, außer dem Vieh behalten durfte. Als wir die Hirten fragten, warum sie so abgestimmt hatten, erklärte ein Freund: „Das ist doch nicht so wichtig“. „Es wäre mir peinlich, mich jetzt undankbar zu zeigen und ihm nach all dem, was die Partei für unser Land getan hat, den Wagen der Partei wegzunehmen. Warum soll er den Jeep und das Videogerät nicht behalten?“

Experimente mit dem Sozialismus — die ersten Reformen

Mit dem wirtschaftlichen Verfall der Sowjetunion in den achtziger Jahren veränderte sich die Lage der Mongolei dramatisch. Die Frage, die sich die neuen Führer in Ulaanbaatar stellen mussten, war nicht, ob man, sondern wie man sich verändern sollte. Mitte der achtziger Jahre begann die mongolische Regierung Maßnahmen zu ergreifen, die die Effektivität der Kollektivwirtschaft verbessern sollten: Es wurden größere materielle Anreize geschaffen, die die Produktivität steigern sollten und mehr Tiere aus den Negdel für die private Haltung zur Verfügung gestellt. Obwohl der sozialistische Wettbewerb mit seiner Preispolitik und Medaillenvergabe beibehalten wurde, wurde das System der Hirtenentlohnung verändert. 1988 wurde ein neues freiwilliges Kontrakt-System (geree) eingeführt und ein Jahr später ein noch weiter reichendes freiwilliges Pacht-System (arend). Die Reformer in der Hauptstadt sahen darin eine Übergangsphase hin zu einer marktwirtschaftlich orientierten NomadenwirtschaftDas neue Basis-SystemDas neue Basis-System der Entlohnung sollte finanzielle Anreize enger an die Produktivität koppeln. Der Betrag, der für die Erfüllung der Staatsproduktionsziele gezahlt wurde, war zweigeteilt: eine niedrigere Entlohnung für dieErfüllung der ersten 70 Prozent des Zieles und eine höhere Entlohnung für die Erfüllung der verbleibenden 30 Prozent. Es wurden darüber hinaus zwei Bonus-Beträge für die Übererfüllung der Ziele angeboten. Tabelle 2 stellt dar, wie das funktionierte.

Das Kontrakt-System

Das Vertrags- oder Kontrakt-System, das 1988 eingeführt wurde, bot noch weitere finanzielle Anreize, wenn Hirten mit dem Negdel vereinbarten, dass sie ein Produktionsziel des Basis-Systems, oder auch alle, überschreiten wollten. 1990 schrieben zum Beispiel die Basis-Ziele für die Schafzucht vor, dass je 100 fruchtbare Mullerschafe 93 Lämmer aufzuziehen seien, das Kontrakt-Ziel sah hingegen 98 vor. Ein Hirte, der sich für ein höheres Produktionsziel entschied, konnte auch ein höheres Einkommen erzielen und in einigen Fällen Lämmer behalten, mit denen er das Produktionsziel überschritten hatte; nur gab es dabei ein Risiko: Wenn er das höhere Produktionsziel nicht erreichte, musste er die Differenz mit seinen eigenen Tieren ausgleichen. Das Kontrakt-System sah jedoch auch weiterhin eine sehr gute Bezahlung nur für das Hüten der Tiere vor, so dass die Belohnung für das größere Risiko keine Verlockung darstellte. Zum Beispiel erfüllte ein Nomade, den wir kannten, zu 98 Prozent das Produktionsziel für die Schafzucht und verdiente 2816 Tugruk. Hätte er unter dem Basis-System gearbeitet und das gleiche geleistet, hätte er immerhin noch 2300 Tugruk verdient. Das weitaus größte Problem dieser Neuregelung war eine Vorschrift, die es den Hirten verbot, Lämmer zu behalten, die das Produktionsziel überschritten. Die Vereinbarung basierte anachronistischerweise auf der gegen jeglichen Privatbesitz voreingenommenen Meinung der alten Kollektiv-Bewegung. Die Hirten konnten die zusätzlichen Tiere nur dann behalten, wenn sie privat weniger als 50 Tiere hielten. Besaßen sie zwischen 50 und 80 eigene Tiere, konnten sie die Hälfte davon behalten, hatten sie 80 oder mehr, waren zusätzliche Tiere verboten. Das Negdel bezahlte eine Extrasumme für überproduzierte Jungtiere. Diese Einschränkungen waren für die meisten leistungsorientierten Hirten kein Ansporn, zumal wenn sie ihre Privatherde vergrößern und nicht mehr Bargeld haben wollten. Das neue Hirtengesetz kam daher nicht gut an.

Das Pacht-System

Das mehr leistungsorientierte Pacht-System wurde nur ein Jahr später, also 1989 eingeführt. Man wollte damit den Rückgang des Viehbestandes verringern, die Menge an Tierprodukten vergrößern und die Produktivität erhöhen, indem man den Hirten eine größere Verantwortlichkeit für die von ihnen betreuten Herden zuerkannte. Die wesentliche Neuerung bestand in der Abschaffung des Hirtengehalts. Dieses System sah vor, dass die Hirten ihre Tiere für einen bestimmten Zeitraum vom Negdel pachteten — 1989 und 1990 für ein Jahr und 1991 für fünf Jahre. Sie bezahlten dem Negdel für jedes Tier eine bestimmte Pachtgebühr und wurden vom Negdel für ihre Erzeugnisse und ihre Arbeit bezahlt, also für die Wolle, für die Aufzucht von Jungtieren und die Mast der Tiere. Das Negdel stellte jedoch kein freies Heu, keine Umzäunungen, Veterinärdienste und Transportmöglichkeiten mehr zur Verfügung, wie das zu den Zeiten des Basis-Systems der Fall war, und Fehlerträge mussten von nun an durch die Privatherde des Hirten ausgeglichen werden. Doch nun konnten alle überschüssigen Tiere behalten werden, ganz unabhängig davon, wie viele Tiere eine Familie besaß. Sechzehn Haushalte (12 Prozent) erklärten sich 1989 damit einverstanden, dieses System zu erproben. Das Pacht-System war eine wesentliche Verbesserung gegenüber den vorhergehenden Systemen, da die Belohnung der Hirten eindeutig dem entsprach, was sie tatsächlich produzierten. Grundsätzlich jedoch funktionierte noch alles nach dem Prinzip der Kollektivwirtschaft, da die Gehälter immer noch von willkürlichen, staatlich festgesetzten Produktionszielen bestimmt waren, die in keinem Verhältnis zur realen Marktsituation standen. War Bayerhuus zusätzliche Produktivität wirklich über 17000 Tugruk wert, oder setzte der Staat die Pachtgebühren absichtlich zu hoch an, um Anreize für eine Veränderung zu geben? Ohne Markt, ohne Wettbewerb und freien Verkauf konnte diese Frage nicht beantwortet werden. Die Neuerungen sollten die Produktivität anregen und die Hirten auf die Marktwirtschaft vorbereiten. Da jedoch nur sehr wenige freiwillig mit machten, hatten sie keinen nachweisbaren Einfluss auf die allgemeine Produktivität der Kollektive; dank der überhöhten Löhne kam ihnen jedoch sicherlich eine zweifelhafte wirtschaftliche Bedeutung zu. Symbolisch gesehen waren diese Neuerungen allerdings wichtig, da sie einem Teil der Hirten ein sehr hohes Einkommen ermöglichten. Im Sozialismus war es verpönt gewesen, großen Profit durch harte Arbeit oder Verkäufe zu machen, und die neue Botschaft lautete nun, es werde den Hirten gut gehen, wenn sie wirtschaftlicher arbeiteten. Das konnte man akzeptieren. Nichtsdestotrotz waren die meisten Hirten dem großen Geld gegenüber noch negativ eingestellt, und die reichen Nomaden von 1990 und 1991 hüteten sich, ihren Reichtum zur Schau zu stellen.

Gleichzeitig mit der Realisierung dieser Reformen setzte der Staat die Produktionsziele für die privat gehaltenen Tiere fest, die niedriger waren als die für Negdel-Tiere, für deren Produkte aber höhere Preise gezahlt wurden. Das verärgerte viele Hirten und Beamte, die für die Negdel-Politik waren, und nun vermuteten, es sollte damit der Eindruck erweckt werden, dass das Privathirtentum dem Verbleib im Negdel vorzuziehen sei. Die Nomaden hatten seit den späten achtziger Jahren etliche Reformen mit erlebt, aber es war ihnen freigestellt gewesen, daran teilzunehmen. Sie wussten, dass sich die Mongolei veränderte, fühlten sich aber noch recht sicher in der fest strukturierten Welt ihres Negdel. Es leuchtete ihnen nicht ein, warum das bequeme Leben mit der Hinwendung zur Marktwirtschaft aufhören sollte; allerdings interpretierten sie diesen Schritt richtigerweise als eine Aufwertung des Kapitalismus — jenes Systems, das sie 70 Jahre lang gelernt hatten, als ausbeuterisch und grausam anzusehen. Statt das Ausmaß der Abhängigkeit der Mongolei von sowjetischer Hilfe und die Unmöglichkeit, weiterhin sozialistisch zu wirtschaften zu erklären, hatte die Regierung einfach behauptet, die Mongolei benötige die Marktwirtschaft, um der Bevölkerung einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen. Viele Hirten wunderten sich darüber, zumal sie der Ansicht waren, sie hätten ein angenehmes Leben. Es kam auch die unrealistische Erwartung auf, die neue Regierung würde die Herstellung von Fabrikerzeugnissen forcieren und das Dienstleistungsangebot erweitern. Die Hirten waren daher grundsätzlich zufrieden mit ihrer Situation. Es herrschte zwar eine gewisse Angst, aber sie glaubten nicht, dass die Veränderungen ihren Lebensstandard drastisch herunterschrauben würden. Mehl, Zucker und Öl gab es genauso im Überfluss wie Kleidung, Stoff, Filz und Stiefel. Der Laden am Ort hatte 1990 sogar mehrere neue blitzblanke Yamaha-Stromerzeuger erhalten, die sofort verkauft wurden. Die Hirten diskutierten die Vorteile der Privatisierung und die Bedeutung der geheimnisvollen Marktwirtschaft, gleichzeitig hofften sie auf einen milden Winter, hohe Staatspreise für die nächsten Jahresproduktionsziele und darauf, dass noch mehr Fabrikerzeugnisse erhältlich wären. Sie sprachen von einer Mongolei ohne Negdel und spekulierten darüber, wo und wie sie für ihre Milch, ihr Fleisch und ihre Wolle Märkte finden könnten; nur schienen diese Dinge noch in weiter Ferne. Einige Nomaden meinten, es wäre gut, das Negdel abzuschaffen: „Wenn ich meinen Anteil an Negdel-Tieren behalten kann, bringe ich es alleine weiter. Ich brauche niemanden, der mir sagt, wie ich das Vieh zu hüten habe.“ Grundsätzlich verhielten sich die Viehzüchter jedoch ablehnend oder waren angesichts der vorgeschlagenen Veränderungen einfach unsicher. Ein dreiundsiebzigjähriger Pensionär teilte uns ziemlich unumwunden seine Ansicht mit: „Vielleicht ist der freie Markt für die Mongolei besser, aber will können nicht sofort damit anfangen. Wir brauchen Zeit und müssen erst lernen, wie der Markt arbeitet und wie wir uns als Nomaden darin zurechtfinden können. Der Wandel muss langsam eingeleitet werden.“ Am meisten fürchteten die Nomaden die Einbuße der Vorrechte, die ihnen die Negdel-Mitgliedschaft garantierte. Ihre größte Sorge war, dass sie mit der Abschaffung der Kollektivwirtschaft fortan selbst für ihre medizinische Versorgung und die Ausbildung ihrer Kinder aufkommen müssten und ihre Renten verlieren würden. Die Negdel-Beamten schienen derartige Befürchtungen zu schüren, denn sie warnten die Nomaden vor der Marktwirtschaft und den hohen Steuern, die die Leute beispielsweise in den Vereinigten Staaten zahlen müssten. Sie hofften, dass sich die meisten Hirten gegen die Privatisierung entscheiden würden.Einige ernsthaft besorgte Hirtennomaden fürchteten, dass mit der Marktwirtschaft Ausbeutung und Armut zurückkehren könnten. Bei der bereits erwähnten Mitgliederversammlung erklärte ein junger Hirte leidenschaftlich: „In der freien Marktwirtschaft werden die Fähigen viel leisten; daraus ihren Vorteil ziehen und reich werden, und die weniger befähigten werden arm sein. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ins Feudalsystem zurückfallen.“

Viele Hirten äußerten ähnliche Bedenken: Wenn die Negdel aufgelöst würden, würden die reichen Hirten — wie in den alten Zeiten — anfangen, die armen anzustellen. Ein Beamter erzählte uns: „Wir wollen nicht zur Sklavenarbeit zurückkehren. Wir wissen, dass es in der Inneren Mongolei (China) so war, nachdem die Kommunen (in den achtziger Jahren) aufgelöst wurden; das ist der Grund, weshalb wir einfach gegen die Auflösung der Kollektive sind.“ Wir fragten Altangerel, den Leiter des Negdel, ob es wirklich passieren könnte, dass reiche Nomaden arme beschäftigen, und er fragte uns, was denn die Hirten selbst dazu meinten. Als wir ihm sagten, dass die Hirten das nicht wollten, hellte sich sein Gesicht auf, und mit einem triumphalen Lächeln antwortete er: „Ja, wir hier mögen es nicht, andere als Arbeiter anzustellen, das wäre ein Schritt zurück ins alte System.“ Die Regierung selbst machte sich bereits Sorgen über das Schicksal der weniger Befähigten und der Armen in der kommenden Marktwirtschaft, und sie war daher bemüht — allerdings mit nur geringem Erfolg — ihnen vor dem Umschwung zu helfen, ihre Privatherden zu vergrößern. Der ortsansässige Brigadechef erklärte uns dazu: „Wir haben einigen der ärmsten Haushalte kostenlos Tiere überlassen, damit sie sich eine Privatherde aufbauen können, aber das war nicht gerade erfolgreich, den sie essen oder verkaufen die Tiere sofort.“ Trotz Warnungen seitens der Regierung, dass im darauf folgenden Jahr das Benzin rationiert werde und die Hirten wie früher ihre Lager mit Hilfe von Kamelen anstatt mit Lastwagen verlegen sollten, war man sich über das Tempo der bevorstehenden Veränderungen nicht im klaren. Die Mongolei war eine Demokratie geworden, der Wechsel war ohne Blutvergießen verlaufen, und die Revolutionäre Volkspartei hatte die ersten Wahlen eindeutig gewonnen. Alle gewählten, örtlichen Beamten waren Mitglieder der Revolutionären Volkspartei; die Hirten kannten sie und vertrauten ihnen auch. Damals, Mitte November 1990, fingen die Nomaden an, ihre Winterquartiere zu beziehen, und die erste Phase unserer Forschungsarbeit ging Ende. Als wir uns von den Hirten verabschiedeten und erklärten, wir würden im darauffolgenden Mai wiederkommen, war es weder für sie noch für uns vorhersehbar, wie schnell und drastisch sich der Wandel ihrer Welt vollziehen würde, und dass wir gerade das Ende einer Ära miterlebt hatten.

Pferdezucht mit dem Pacht-System (1989-90)

Bayerhuu, ein 43 Jahre alter Hirte mit acht Kindern und einer 44-jährigen Frau züchtete für das Negdel Pferde. Er pachtete 433 Pferde (einschließlich 95 Stuten) unter der Bedingung, 97 Prozent (424) der ursprünglichen Tiere und Füllen von 87 Prozent der Stuten (83 Füllen) zurückzugeben. Das war viel mehr als das Produktionsziel des Basis-Systems, das 67 Füllen vorsah. Er bekam 130 Tugruk für jedes Füllen, das ergab dann 10.790 Tugruk für die 83 Tiere, die sein Produktionsziel ausmachten. Alle 95 Stuten warfen, und da keines der 95 Füllen starb, behielt er zwölf Jungtiere für seine Herde. Da auch keine Stuten verendeten, konnte er auch diese neun behalten. Bayerhuu war auch verpflichtet, von jeder Stute zirka 100 Liter Milch zum Preis von 3,08 Tugruk pro Liter abzugeben. Er musste zusätzlich noch 325 Gramm Pferdewolle (Kaschmir) und 340 Gramm Pferdehaar (von Mähne und Schweif) von jedem Pferd, außer von den Füllen, abliefern. Er bekam für die Pferdewolle 195 Tugruk und für das Haar 357 Tugruk, Sein ganzes Bareinkommen betrug also 18.942 Tugruk. Nach der Zahlung des Pachtgeldes von 10.825 Tugruk an das Negdel betrug sein Nettoeinkommen noch 8117 Tugruk. Die überschüssigen Füllen und ausgewachsenen Tiere, die er hielt, waren weitere 9300 Tugruk wert, und da er dank seiner Privatherde zusätzliche 1500 bis 2000 Tugruk für die Erfüllung der Produktionsziele einnahm, betrug sein Nettoverdienst beinahe 20.000 Tugruk — ein hohes Einkommen in Ulaanbaatar. Wenn man also Tiere über das Produktionsziel hinaus züchten konnte, war das Pacht-System eine sehr lukrative Alternative.

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