Das Märchen von der Ziege und dem Wolf
Unfähig aufzustehen strampelte die Ziege auf dem Rücken, als der schmaläugige Wolf sich näherte.
Zitternd vor Angst fürchtete die meckernde Blaue, ihr letztes Stündlein sei gekommen.
Doch – der ungebetene Gast fasste sie mit seinen Tatzen bei den Rippen und half ihr auf die Beine.
Er säuselte: „Wir helfen doch immer den Armen“ und fütterte sie mit Küchenschellen.
Leichtgläubig vertraute ihm nun die Ziege – als wäre er ein hilfreicher älterer Bruder.
Doch eines Tages „öffnete er ihren Bauch“ und fraß sie auf.
Anmerkungen:
Der Wolf ist in der Mongolei immer schmaläugig.
Die „meckernde Blaue“ meint eine (dumme) Ziege, deren Wolle ein für mongolische blau schimmerndes Grau aufweist.
Küchenschellen sind die Lieblingsspeise der Ziegen, die ja als Feinschmecker Blüten und wurzeln bevorzugen,
Der „geöffnete Bauch“ sind die vielen Bergwerke, die überall in der Mongolei zu sehen sind .
Zum Autor und zur Bedeutung des Märchens
Dieses Märchen schrieb Tangadin Galsan in den 50er Jahren. Es wurde Anfang der 60er veröffentlicht und wurde als Angriff auf die Sowjetunion gewertet. Tangadin wurde aus der Hauptstadt in die Gobi verbannt, wo er einige Jahre als Kamelhirte arbeiten musste. Später konnte er wieder nach Ulaanbaatar zurückkehren, wo er im Fleischkombinat arbeitete. Diese Zeit bezeichnet er heute als eine verlorene Zeit.
Doch heute – und hier stimmte Tangadin uns in einem Gespräch zu – ist der Wolf ein anderer geworden. Wer heute mit offenen Augen durch die Mongolei fährt, sieht dort einen Dämonen mit einem großen Spaten den Bauch der Mongolei aufreißen. Und die Küchenschellen bekommen heute nur wenige…
Tangadin gehört heute zu den gefeierten Nationaldichtern. In den 90er Jahren arbeitete er in einer Arbeitsgruppe, die die Erhaltung der Volksdichtung und Volkskultur zum Ziel hatte. Neben einer Reihe eigener Werke hat er in den letzten Jahren mehrere Sammlungen von Volksdichtung herausgegeben.