Ekkehard Faude: Fritz Mühlenweg
»Hammaguä! Man soll Geschriebenem nicht nachlaufen.«
Manchmal vielleicht doch; man entdeckt dann womöglich einen Autor: Fritz Mühlenweg zum Beispiel.
Autoren können dem kulturellen Gedächtnis verloren gehen. Wer 30 Jahre nach Fritz Mühlenwegs Tod nachfragte – damals machten wir uns ans Abenteuer seiner Wiederentdeckung –, traf neben Ratlosigkeit noch den Rand des schmalen Etiketts »Jugendbuchautor«, vor allem assoziiert mit dem stetig verkauften Taschenbuch »Großer-Tiger und Christian«. Der Blick ins ältere Handbuch »Kinder- und Jugendliteratur« fand noch einen einzigen Satz unter der Rubrik »völkerkundlich-geographisch orientiertes Abenteuerbuch«; Heinrich Pleticha tat da, als ob ein Hauptwerk namens »Großer-Tiger und Christian« 1963 erschienen sei. Kein Hinweis darauf, dass damals, zwei Jahre nach Mühlenwegs Tod, unter diesem Titel nur die um ein starkes Sechstel gekürzte Fassung seines erfolgreichsten Romans vertrieben wurde.
Die erste Generation der Leser hatte den Roman meist in der zweibändigen Ausgabe »Großer-Tiger und Kompass-Berg« und »Null Uhr fünf in Urumtschi« gelesen. Sie war zu Weihnachten 1950 erstmals bei Herder erschienen, weniger betuchte Familien begnügten sich zunächst mit dem ersten Band. Parallel war eine einbändige Ausgabe unterm Titel »In geheimer Mission durch die Wüste Gobi« lieferbar. Bis 1963 sind mehr als hunderttausend Exemplare verkauft worden.
Kein Wunder, dass Fritz Mühlenweg einer Nachkriegsgeneration, die das Lesen noch nicht gegen die Flimmerbilder im Wohnzimmer tauschen konnte, unvergessen blieb. Wenn sich die aufsteigenden Erinnerungen an dieses große Buch heute noch mit einem eigentümlichen Augenleuchten einfärben, ist das nicht Folge der Auflagenhöhe. Es kann als Körpersediment einer Qualität des Textes genommen werden: Die Mischung aus aufschließender Klugheit und Herzenswärme ist geblieben, der Zugang zu einer eigenen Welt, die Mühlenwegs Buch unverwechselbar macht. »Sitzt ihr auch leicht und gut?«, »Keine Besorgnis deswegen!« und andere Sätze einer exotischen Höflichkeit, Spielformen der zurückhaltenden Annäherung an eine ernst zu nehmende Fremde, gibt das Gedächtnis noch frei. Mühlenweg-Begeisterte erkennen sich an Passworten. Das schaffen nur Klassiker.
Als nach dem Tod des Autors kein Verlag mehr für seine anderen Bücher zu finden war (Roman, Erzählungen, Gedichte), gab es noch die Anhänglichkeiten einzelner Literaturkenner, die Fritz Mühlenweg immer wieder priesen. Schwebende Fäden einer hochkarätigen, behutsamen Geschichtsschreibung, als Feuilleton-Ausschnitte in Buchdeckel abgelegt. Sie alle versuchen, seine früh erfolgte, zu enge Verortung als Jugendbuchautor aufzulockern. Ein schwieriges Unternehmen in einem Geschäft der Literaturbewertung, wo die Einpassung ins Marketing-Segment »Jugendliteratur« schon in den Lektoraten beginnt und von der starren Regalordnung der Buchhandlungen bestätigt wird. (Die Etikettierung kann auch anderswo fatal werden: Dass eine Dichterin wie Astrid Lindgren den Kriterien des Nobelpreises nicht genügen konnte, gehört dazu.)
Hartmut von Hentig hat im Herbst 1990 für die Frankfurter Anthologie der FAZ als sein Lieblingsgedicht Fritz Mühlenwegs »Sehnsucht« ausgewählt. Er hatte es in den 40er-Jahren in Mühlenwegs erstem Buch »Tausendjähriger Bambus« kennen gelernt, einem schmalen Band mit Nachdichtungen aus dem chinesischen Shijing. Hentig wusste, wie unbekannt Mühlenweg geworden war, und machte den Autor mit dem Hinweis kenntlich, dass er »1927 mit Sven Hedin durch die Wüste gezogen ist und daraus später zwei der schönsten Abenteuerromane der Weltliteratur gemacht hat«. (Gemeint ist, neben unserem Buch, der Roman »Fremde auf dem Pfad der Nachdenklichkeit«.)
Jahre zuvor, 1979, meditierte Bernhard Heimrich in einer Serie der FAZ (»Erinnerung an mein erstes Lieblingsbuch«) über seine bereits ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Leseerinnerungen, zuletzt auch über die »tückische Traurigkeit«, die das Buch zurückließ. »Uns Fremdlingen erscheint diese dunkle Sprache wie die Erzählweise ursprünglicher, kindlicher Ernsthaftigkeit. Sie lässt mit Geschick in der Schwebe, ob hier eigentlich die Kinder die Erwachsenen abgeben sollen oder umgekehrt – ein Geschick, das natürlich auch als unmongolische Ironie verstanden werden kann.«
Das verworrene Echo seines Könnens ist schon in seinem Werk begründet. Was Fritz Mühlenwegs literarischer Ruhm hätte werden können, begann mit Übertragungen aus einer sehr entfernten Sprache: 1946 erschien bei Dulk in Hamburg sein »Tausendjähriger Bambus«. »Diese Gedichte sind die Früchte meines sechsjährigen Postenstehens bei Tag und Nacht. So war die Zeit nicht ganz vertan«, schrieb er im Mai 1947 an den Arzt David Hummel in Schweden, den er aus seiner Mongolei-Zeit her kannte.
Ab 1939 war Mühlenweg beim Zoll dienstverpflichtet gewesen, zuerst in Bordeaux, dann am Bodenseeufer. Ein Kunstmaler im fünften Lebensjahrzehnt, nicht mehr vom Krieg an der Front gefährdet wie 1917/18, aber ferngehalten vom Malen und vom Alltagsleben mit Frau und Kindern in Allensbach, überträgt aus einer englisch-chinesischen Ausgabe uralte Gedichte und tröstet sich mit eigentümlichen Sprachbildern. (Das Echo klingt noch im Roman: »Dann waren sie still. Über den Rasenplatz wehte der Nachtwind, die Gräser blinkten im Mondlicht, und Glück bat leise: ›Sagt mir noch einmal das Gedicht vom Prinzen Tschao, damit ich es lerne und eine Erinnerung an euch habe.‹« Nicht nur an dieser Stelle auf Seite 743 leiht sich der Soldat Glück Mühlenwegs eigene Stimme.)
Er hatte das Bändchen von einem chinesischen Studenten erhalten, dem er auf einer Wetterstation in der Gobi (1931/32) Deutschunterricht erteilt hatte. über seine Nachdichtungen hielt der Grenzschützer Mühlenweg Zwiesprache mit einer älteren Zeit (am Nachthimmel der Widerschein vom bombardierten Friedrichshafen her). Die Textarbeit erlaubte ihm auch Wiederbelebungen seiner eigenen Erfahrungen im fernen Asien.
Mühlenweg erwähnte seinem schwedischen Freund Hummel gegenüber nichts von der glänzenden Rezension, die Bruno Snell am 10. Oktober 1946 in der »Zeit« veröffentlicht hatte. Der bedeutende Philologe hatte die sprachliche Kraft dieses Erstlings gerühmt: »… und immer wieder hat der Übersetzer das Wunder vollbracht, dass in leichten und doch nie aufdringlichen Reimen in einer selbstverständlichen und doch erfüllten Sprache vollendete deutsche Gedichte entstanden sind.« Mühlenweg schrieb von den Zeitumständen, die auch am verschonten Seeufer hart genug waren. Im November 1947 hat er neun Ster Holz geschlagen (um drei davon selbst zu bekommen), Kohlen gibt es schon lange nicht mehr, die Familie – das sind vor allem die drei Töchter und drei Söhne im Alter von 3, 6, 8, 10, 12 und 13 Jahren – sitzt im Atelier der Frau um ein Eisenöfchen. Es ist Elisabeth Mühlenweg, die mit ihren gut verkäuflichen religiösen Bildern und den Illustrationsaufträgen die Familie ernährt (und schneidert, und kocht: eine im Bekanntenkreis gerühmte Hausfrau). Fritz Mühlenweg, der schon über einen Auftrag der Bäckersfrau (»Blumenstilleben«) froh sein muss, schreibt im Getümmel, »ein Brett auf den Knien«. (Vielleicht skizziert er schon Naidangs Erzählung vom uralten Bambus, der den Untergang der Stadt Edsina überliefert?)
Die Erleichterung über das Ende der Hitlerzeit braucht er nicht mitzuteilen, der schwedische Freund weiß, dass ins Allensbacher Haus die Führertiraden und die Fanfaren der Sondermeldungen nicht gedrungen waren (»wir besitzen keinen Radioapparat und wir haben auch nie einen haben wollen, denn die Politik interessiert uns nicht«).
Die markanteste Freundschaft verband die Familie Mühlenweg seit den späten 30er-Jahren mit der Familie Dix, die im nahen Hemmenhofen den Abstand zur Reichskulturkammer hielt. Die beiden Männer, die Malerausflüge am See machten, teilten eine künstlerische und politische Abwehr, die Otto Dix 1938 in einem seiner kurzen Briefe an Mühlenweg auf die grimmige Formel brachte: »Bleiben wir also die Alten. Es lebe die Entartung!«
1947 schreibt Mühlenweg seine längeren Briefe auch an Sven Hedin und die Kameraden der Expedition, zu denen er den Kontakt fast verloren hatte; mit ihnen verbindet ihn die Einsicht, »dass wir zu spät erkannt haben, welch herrliche Zeit wir dort verbringen durften«.
Dort – das war vor allem die Innere Mongolei, die Dünen und steinigen Ebenen der Gobi, in den Jahren zwischen 1927 und 1932. Das »zu spät« spielt auf eine zerstörerische Zeitgeschichte und die eigene Biographie an. Die Mongolei, die sie noch kennen gelernt hatten, war seither fast untergegangen, in Naturkatastrophen, den Folgen von chinesischer und russischer Großmachtpolitik und der Expansion des japanischen Faschismus. Die Lebensläufe der Expeditionsteilnehmer andererseits hatten sich verfestigt: Aus den Abenteurern, die dem krisengeschüttelten Europa der 20er-Jahre entkommen wollten, waren Familienväter geworden, deren Erinnerung an die Erlebnisse zwischen Sattel und Zelt allmählich den Dreck, die Mühen, die Psychokrämpfe und die zermürbende Langeweile der Expedition ausgefiltert hatte. Der Duft der Lagerfeuer wehte blau in die Nachkriegsmisere der alten Karawanenmänner herüber.
Es hätte für Fritz Mühlenweg bei diesem einen Gedichtband bleiben können. Er wäre der Maler geblieben, dessen großformatige Bilder von Landschaften und surrealen Mythologien in privaten Sammlungen verschwanden. Ein Weitgereister, der Vorträge über die Mongolei hielt und von dem die Schulfreunde in Konstanz wussten, dass er im Ersten Weltkrieg Drogist gelernt hatte, im fernen Bielefeld, wo einst sein Vater hergekommen war.
Tatsächlich hatte Fritz Mühlenweg 10 Jahre als Drogist gearbeitet, im Rhein-Main-Gebiet und zuletzt, nach dem Tod des Vaters, im elterlichen Geschäft in der Konstanzer Altstadt. Aber ein sich verengender Alltag stürzte ihn in eine Lebenskrise. Der 28-Jährige bewarb sich bei der jungen »Luft Hansa« in Berlin, ließ abrupt Mutter und Schwester mit der Drogerie allein und reiste nach wenigen Wochen auf geheimnisvolle Weise nach Ostasien weiter. Die Daheimgebliebenen konnten sich bald Zeitungsberichte über die Expedition vorlesen, in denen Mühlenweg von seinem berühmten Chef Sven Hedin mit deutlicher Wertschätzung erwähnt war.
In Allensbach, wo er von 1934 an mit seiner österreichischen Frau wohnte, wusste man, dass sich die beiden auf der Akademie kennen gelernt hatten. Der Asienfahrer, der schon auf die erste Expedition Ölfarben mitgenommen hatte und während seiner dritten Gobi-Fahrt den Wunsch festigte, Maler zu werden, war im Herbst 1932 von Professor Andri gleich in die Meisterklasse aufgenommen worden. Er hielt die Mühen der Ebene freilich kein Jahr aus, das akademische Lernen wurde ihm unerträglich. Die 23-jährige Elisabeth Kopriva ihrerseits hatte ihr Malerstudium mit Bravour beendet. Die beiden wurden am Bodensee ein vielfach bewundertes Ehepaar, in ihrer je eigenen Stärke so ungewöhnlich, dass der Malerfreund Sepp Biehler von der Westfront im selben Briefkuvert für beide getrennt schrieb.
Als Fritz Mühlenweg zu schreiben begann, blieb es doch nicht beim Gedichtband. Wie der Drogist und Abenteurer übers unentschlossene dritte Lebensjahrzehnt hinaus den Maler in sich hatte wachsen lassen, so regte sich auch der Erzähler länger schon. Die Mühlenwegs lebten eine Familienkultur, die sich aus der Produktivität der Eheleute entwickelte und bald auch auf die Kinder bezogen war. Selbst gemachte Bilderbücher zuerst, die im Freundeskreis gezeigt wurden. Da seiner Frau das Zeichnerische mehr lag als ihm, übernahm er den Textpart umso lieber. Der gefeierte Jugendbuchautor hat später gern betont, wo sein Erzählen den Sitz im Leben zuerst nahm: in den Fragen seiner Kinder (»Papa, erzähl uns doch was«). Unter den Zuhörern saßen von Anfang an also vier Frauen; davon wollte das sexistische Buchmarketing der Adenauerzeit dann nichts mehr wissen, als es mit dem Abenteuerbuch nur noch »den echten Jungen« anpeilte …
Seine Produktivität hatte aber noch andere Motivationen. Er wollte veröffentlichen und dazuverdienen. Erste Versuche mit asiatischen Erzählstoffen waren in den 30er-Jahren erfolglos geblieben. Der Blitzstart seines Gedichtbands – 5000 Exemplare waren rasch verkauft – wirkte auf den fast Fünfzigjährigen wie eine Befreiung. Er versuchte, wieder an chinesische Stoffe anknüpfend, ein Theaterstück (»Piän Ki«), das im Dezember 1947 angenommen (und nie aufgeführt …) wurde.
Ende 1948 bestellt der Herausgeber der Zeitschrift »Die Erzählung« (Südverlag) eine Kurzgeschichte bei Mühlenweg. Dieser Zufall bringt sein Erzählen auf bezeichnenden Grund: Mit L. E. Reindl war aus dem zerbombten Berlin ein Mann von großstädtischem Horizont und wachsamer Neugier an den See gekommen, einer der Ullstein-Journalisten, die vom neu gegründeten »Südkurier« her ins ansonsten katholisch-verhockte Konstanz ungewohnte Töne brachten. In jener kurzen Aufschwungzeit hatte das Theater sogar Hans Hilpert als Intendanten angelockt. (Max Frisch ist damals mit Brecht vom nahen Zürich per Auto angereist. Wenn die Mühlenwegs ins Konstanzer Theater gingen, waren das 16 Kilometer Nachtmarsch heimwärts.)
Aus dieser Kurzgeschichte ist, so wird aus der Verlagskorrespondenz deutlich, der Roman gewachsen. Also doch auch ein Text für Erwachsene …, der aus den familiären Erzählungen gewachsen war und nun eine eigene Richtung nahm. Mit Bleistift in alte Kontorbücher geschrieben, seine zierliche flüssige Schrift, wenigstens eineinhalb Jahre lang. Und um sich im engen Haus die ganz anders laufende Schrift der Füße: zu den sechs Kindern waren noch zwei Flüchtlinge aus der Verwandtschaft gekommen.
Dem Werkprozess nachzuspüren, mit dem Mühlenweg seiner Erzählphantasie aufhalf, wäre eine hübsche Aufgabe für ein Dechiffriersyndikat jenseits von Bargfeld. Seine literarischen Lektüren hielt er bedeckt, das passte auch besser zum Bild eines spät startenden Originalgenies. Sein technisches Wissen gab dem ehemaligen Drogisten andererseits die Phantasie, den Roman-Bösen durch ein selbst verschuldetes Explosionsunglück hinzurichten: eine geniale Lösung, seine Botschaft von der lebensvergeudenden Dämonie der Rache wurde so nicht durch einen Mord geschwächt.
Er war von seinen Expeditionserfahrungen weit genug entfernt, um sie in starke Bilder zu verdichten, und konnte sie durch exquisite Quellen auffrischen. Es gab die detailreichen Briefe noch, die er an die Mutter geschrieben hatte, von der Anreise im Januar 1927 nach Peking bis hin zur Ankunft in Urumtschi, der Stadt des Gouverneurs Yang, im Februar 1928. Auch seine schmalen Expeditionstagebücher waren ihm geblieben mit Aufzeichnungen bis 1932, zudem Hunderte von Fotos, vom Wüstensand lädiert.
Schon mehrere Bücher über die Expedition waren erschienen, zuerst natürlich Hedins »Auf großer Fahrt durch die Wüste Gobi« (1929). Was für den Expeditionsleiter seine mehrmals unterbrochene letzte Ostasienexpedition von 1927 bis 1934 wurde, hat Mühlenweg ganz anders erlebt. Er war als kaufmännischer Angestellter der »Luft Hansa« in Berlin dabei, die Hedins Vorhaben finanzierte, weil sie an meteorologischen Beobachtungen aus der Gobi interessiert war. Es ging in dieser streng geheimen Sache aber noch um ganz anderes als die Vorbereitung einer direkten Luftlinie Berlin–Peking … (vgl. Fritz Mühlenweg, »Drei Mal Mongolei«).
Der gelernte Kaufmann Mühlenweg organisierte 13 Monate lang die Verpackung von 40 Tonnen Material, verwaltete mehrere Zentner mexikanischer Silberdollars, buchte Löhne und Ausgaben und wurde über seine exakten und weitsichtigen Berichte der Vertrauensmann der Hansa in Berlin. Auch in der Männerrunde der Expedition erwarb sich dieser Jüngste bald Wertschätzung. Er hatte nicht nur von seiner tollkühnen Flucht aus französischer Kriegsgefangenschaft zu erzählen; bei einem Kamelaufstand ritt er beherzt und ausdauernd ins Gewühl. Ein humorvoller Mann, der riskante Bergtouren liebte, mit Skiern auf Sanddünen fuhr und bei Schneestürmen eher jauchzte als klagte. Was ihn am stärksten unterschied, war eine grenzüberschreitende Wissbegier, die sich den mongolischen Karawanenmännern zuwandte. Das Wörterbuch, das Mühlenweg dann Christian unter Siebensterns strenger Anleitung führen lässt, hatte er selbst sofort begonnen.
Mit Sven Hedin war er keine neun Monate zusammen; das hat genügt, um den polyglotten, permanent schreibenden und zeichnenden Schweden als Vorbild für eigene Lebensentwürfe aufzunehmen. Es hat aber auch für eine heftige Ablehnung gereicht, die bei den deutschen Expeditionsteilnehmern generell aufkam. Der ausdauernd optimistische Selbstinszenierer, zudem ein Nachtmensch, war eine Strapaze für seine Zuhörer und enttäuschte seine Verehrer durch Sprunghaftigkeit. Als dann die Daheimgebliebenen Hedins Zeitungsberichte mitschickten – der Schwede vermarktete seine Reiseschriftstellerei fortlaufend über eine amerikanische Agentur –, erkannten sie in seinen romantisierenden Skizzen die Mühen und Fehlschläge der Fahrt nicht wieder. (»Überhaupt nehmt Ihr unsere ganze glorreiche Expedition und das pittoreske Karlchen für viel zu wichtig. Wie gerne würde auch ich zu ihm als einem großen Mann und Führer aufschauen aber er ist es wirklich nicht, doch das kann man Euch in Deutschland ja nicht glaubhaft machen.« Klare Worte aus Urumtschi nach Konstanz, im März 1928)
Es ist aber schwer, sich gegen einen lebenden Mythos zu wehren. Im konservativen Deutschland war Hedin seit gut 30 Jahren der politisch gefeierte Weltheld. Der Asienforscher, tollkühner Bezwinger der Wüsten und des tibetischen Hochlands, war schon mit der Machtelite des Kaiserreichs befreundet gewesen und hatte als Kriegsberichterstatter ein glühend deutschfreundliches Durchhaltebuch geschrieben. Ein Erfüller von Männerphantasien, der vom Erfolg seiner Bücher auf dem deutschen Markt lebte.
Als Mühlenweg Sven Hedin bei seiner zweiten Reise wiedertraf, hatten beide einen Dissens beizulegen: Er war im Auftrag der »Luft Hansa« mit einem Sonderauftrag nach Asien geschickt worden, weil es auf der zwei Jahre zuvor am Edsin-Gol eingerichteten Wetterbeobachtungsstation zu Mord und Selbstmord gekommen war und er den dort verbliebenen Deutschen herausholen sollte. Hedin hielt die Aktion der »Luft Hansa« für überflüssig, fürchtete wohl auch die negative Publicity. (Von den Todesopfern seiner Expeditionen war nie viel die Rede.) Während der vier Monate, die Mühlenweg im Winter 1929/30 fern von Berlin verbrachte, sah er mongolisches Gebiet nur wenige Tage.
Am bedeutendsten für seine Mongolei-Erfahrungen wurde die letzte und längste Reise. Vom März 1931 bis zum Frühjahr 1932 war er mit dem deutschen Meteorologen Haude auf Wetterbeobachtung in der mongolischen Gobi. Wie schon 1927 war Märin wieder dabei, der gewitzte Mongole aus unserem Buch, und die meiste Zeit blieben sie am Edsin-Gol. Viel enervierend öde Messarbeit. Viel Zeit aber auch für Gespräche mit den Mongolen, ein überwiegend freundschaftlicher Austausch. Auch aus den kurzen Streiks seiner Expeditionsarbeiter hat Mühlenweg gelernt. Der im geselligen Leben erfahrene Europäer, der selbst am Edsin-Gol die Vereinsnachrichten des Konstanzer Ruderklubs weiterlas, erkundigte sich nach Festen, Familienleben, Tierhaltung, Kalenderphilosophie und der Bedrängung der Mongolen durch Chinesen und Russen. Und er musste sich seinerseits fragen lassen, was er denn dauernd so viel aufschreibe, warum er denn immer noch nicht verheiratet sei und wie man fern der Mongolei überhaupt leben könne.
Der Respekt vor eigenwüchsigen Lebensformen und die Aufgeschlossenheit für fremde Denkart, noch wo sie der mitgebrachten Prägung komisch vorkam, sind diesem Süddeutschen von den Mongolen mitgeteilt worden und bleiben die starke Botschaft seiner Erzählung. In politischer Hinsicht ist das keine Selbstverständlichkeit: Mühlenweg hätte sich vom rassistischen Männerdenken der Expeditionsteilnehmer leicht einfärben lassen können, es waren Freikorpsleute und frühe Nazis dabei. Und als er dann sein Buch in den späten 40er-Jahren langsam schrieb, musste er andere ideologische Verhärtungen abwehren.
Genau besehen also: Wenn Mühlenweg zur Beglaubigung seines Stoffs die Dauer seines Aufenthalts mit »1927/31« angab, meinte der zahlengenaue Kaufmann die beiden Jahre seiner eigentlichen Mongoleizeit; er erhob freilich (»Man muss der Wahrheit stets auf die Beine helfen, das weiß jeder«, sagte Glück) keinen Einspruch, wenn der Trennstrich bei begeisterten Rezensenten später die verlängernde Richtung nahm: »1927–31«.
Noch andere Strategien, seinen dichten Phantasiestoff mit historischer Glaubwürdigkeit zu versehen, kamen vom Autor. Sie waren auf einen Markt bezogen, den das Buch im Sommer 1950 auf einmal ansteuern musste.
Denn Mühlenwegs Versuche, das Manuskript in einem Erwachsenen-Programm unterzubringen, waren hochrangig gescheitert. Im Juli 1950 kam der letzte Absagebrief von Rowohlt, der den Stoff doch eher der Jugendliteratur zuordnete. Rowohlt, der mit den Rotationsdrucken der markanteste Verlag der westdeutschen Republik geworden war und Neutöner wie Wolfgang Borchert und Arno Schmidt entdeckte. Es dürfte aber eher ein Buch des absagenden Cheflektors Kurt W. Marek (Ceram) gewesen sein, das den Allensbacher zur Anfrage bewogen hatte: Seit Ende 1949 hatte Cerams »Götter, Gräber und Gelehrte« seine Seller-Karriere im Rowohlt-Programm begonnen. War das nicht auch ein für Jugendliche und Erwachsene gleichzeitig lesbares Buch beglaubigter Geschichte, wie er es vorhatte?
Mühlenweg war dann, ungeduldig, mit dem Manuskriptpacken unterwegs nach Hamburg, zu seinem Verlegerfreund Hans Dulk. »Es ist eine Räubergeschichte für das Alter von 12 bis 70 Jahren«, hatte er ihm im Mai geschrieben. Er suchte also, als die letzten Kapitel noch fehlten, immer noch keinen Jugendbuchverleger. Auf der Fahrt machte er Station bei Herder in Freiburg, um Illustrationen seiner Frau abzuliefern. An den traditionsreichen, aber katholisch geprägten Herder-Verlag hatte der kirchenferne Protestant selbst nie gedacht. Seine Geschichte war so fern jeder christlichen Mythologie wie, sagen wir, die Gesänge Ossians. Religiosität kommt darin als gelebte Scheu der Mongolen im Naturbereich vor, die nur ein Menschenfeind wie Grünmantel verächtlich machen konnte. Der streng religiöse Mohammedaner Kasim wird deutlich positiver als seine rituell laschen Landsleute gezeichnet. Und sein eigentliches Ideal religiöser Toleranz lässt er Glück aus den Trümmern der Stadt Edsina lesen: »Also dieser Fürst war ein verständiger Mann, wie mir scheint. Er baute für die Rechtgläubigen eine Moschee, für die Mongolen Tempel und Tschorten, und alle lebten in der Ordnung, die Himmel und Erde vorschreiben.« Mühlenweg war für eine Ordnung wechselseitigen Respekts, längst bevor die multikulturellen Waschfarben aufkamen.
Es soll eine Frage auf der Treppe des bombengeschädigten Herder-Verlags gewesen sein, die dem Paket unterm Arm des Kunstmalers Mühlenweg galt. Der Lektor Theo Rombach erbat sich das unfertige Manuskript bis zum nächsten Tag und erkannte in nachtfressender Lektüre die Macht dieses Textes. Traumstunde eines Lektors.
Herder baute damals ein Jugendprogramm auf, und der umsichtige Rombach suchte nach literarischen Stoffen. Er rang seinem Chef am nächsten Morgen das Placet ab und machte dem Autor klar, wie viel besser es für ihn sei, wenn sein Buch bei Herder erschiene. Ein großer Verlag, mit mächtigen Verbindungen zur katholischen Presse und einem Programm, das der Sortimentsbuchhandel kannte. Der Autor sah das ein und war über den Verlagsvertrag im Juni froh. Die eilig geschriebenen Schlusskapitel richten sich auf die nun festgelegte jugendliche Leserschaft.
Es war wohl diese Festlegung, die Mühlenweg selbst einen pseudohistorischen Rahmen fester zurren ließ. Noch in der Drucklegung hat er eine Mongoleikarte gewünscht, die den »Reiseweg von Christian und Großer-Tiger« durch die Wüste Gobi nachzeichnete (inzwischen abgedruckt in: »Drei Mal Mongolei). Eine fiktive Route, aber aus Wegstücken seiner tatsächlichen Reisen gebildet. Vor allem von seiner Fahrt des Jahres 1931 hat er sich inspirieren lassen, die ersten Stationen des Romans bewahren deutliche Echos seines Expeditionstagebuchs. Wem die Mühen der Bergstraße im 12. Kapitel nicht anschaulich genug sind, könnte also ihr Vorbild, den Aufstieg am 4. März 1931 von »Silberdorf« aus, mit 540 Metern Höhenunterschied exakt ausrechnen, mit Mühlenweg’schen Zahlen. Aber bleibt uns nicht viel eindrücklicher die erfundene Raufszene, die sich gleichzeitig abspielt und in der drei Jungen aus Argwohn und Kampf zu einem Freundschaftsbund finden, weil sie Schwächere gegen einen Verfolger schützen wollen? (»Es ist mühsam, einen mächtigen Gegner zu überwinden, aber es ist nicht unmöglich.« S. 80)
Mühlenweg hat auch eine Vorbemerkung geschrieben (»Für alle, die es genau wissen wollen«): »Im Frühjahr 1922 eroberte der General Wu-Pei-Fu Peking. Es war die Zeit der Bürger- und Generalskriege, der erfolgreichen Räuberhauptleute und der ohnmächtigen Staatspräsidenten. Damals gab es eine Menge hervorragende, aber auch einige unerfreuliche Zeitgenossen, die so, wie sie nun einmal waren, in dieser Erzählung auftreten. Viele von ihnen hat der Verfasser kennen gelernt, und mit Naidang hat er das Neujahrsfest 1931/32 gefeiert. Von ihm und Siebenstern erfuhr er das meiste dieser Geschichte, und dafür ist er ihnen Dank schuldig.« Der gewitzte Autor wusste, dass die Sätze über die Bürgerkriegssituation im China der 20er-Jahre reichten; sie hätten ihm auch für die Weimarer Republik genügt, Räuberhauptleute und ohnmächtige Staatspräsidenten gab es auch in Europa genug.
Er hat seinem Buch den Mantel des Historischen mit der gleichen Lockerheit umgelegt, mit der er sich in eine veritable Kostümierung begab: Für die Werbeabteilung des Herder Verlags posierte er der Fotografin Lotte Eckener in einer mongolischen Verkleidung, die er sich einst mitgebracht hatte. Für Jahre prangte dieses Autorenfoto auf zigtausend Werbezetteln für seine zahlreichen Lesereisen. Er hatte in Alben noch die Fotos seiner wirklichen Mongolenzeit. Vom Outfit jenes soldatisch-flotten Westlers in Lederjacke, Krawatte und Knobelbechern (1927) oder des Hippiemähnigen (1932) war seine Verkleidung für die Jugendbuch-PR-Maschine weltenweit entfernt.
Auf dem Herder-Foto blickt der Autor so ernst und wetterknittrig unter der Pelzkappe ins Ferne, dass man die Erwartungen der jugendlichen Nachkriegsleser an Trapper, Winnetou & andere letzte Mohikaner knirschen hört. Mühlenweg hat es, so zeigt das Bild, geschafft, wenigstens für die Minuten der Aufnahme ernst zu bleiben. Er konnte sich das Kostümspiel leisten. Sein literarischer Stil beweist ganz unauffällig, wo er keine Staffage betrieb. Wenn Mühlenweg seine Helden einen mongolischen Fluss durchreiten lässt, ist klar: da weiß einer, wie man einen Falben mit straff gezogenen Zügeln in ein kaltes Wasser treibt.
Wer es »genau wissen wollte«, müsste im Nachhinein einen Horizont chinesischer und mongolischer Geschichte aufreißen, den die Teilnehmer der Hedin-Expedition nie erfahren haben, weil sie die verstreuten Nachrichten nur durch die Brille westlicher Kolonialmächte sahen. Was die Europäer im Frühjahr 1927 als Verzögerung ihres Aufbruchs in die Wüste erlebten, hing mit Arbeiteraufständen in Nanking und Schanghai zusammen, bei denen der neue starke Mann Tschiang Kai-schek tausend Streikteilnehmer erschießen ließ, die ihm zuvor von ausländischen Polizeitruppen überstellt worden waren. Dass der General in eben jenen Wochen ein Regime der Konterrevolution einrichtete, drang nicht zu den Gobi-Reisenden.
Es hat wenig Sinn, Mühlenweg auf seinen künstlichen historischen Rahmen festzulegen, um ihn von dort zu entmythisieren. Der »alte Gebieter« Yang, der 1928 bei einem von sowjetkommunistischen Kreisen ausgehenden Attentat ums Leben kam, war nicht der philosophische ältere Herr unserer Schlusskapitel. Und den so freundlich geschilderten General Wu-Pei-Fu werden wir kaum mit jenem chinesischen »warlord« zusammenbringen, der im Jahr 1921 zum Beispiel unter einer gewerkschaftlichen Delegiertenversammlung ein Massaker angerichtet hat. Die Erzählung bleibt auf einer anderen Ebene historisch vertrauenswürdig.
Mühlenweg hat soziologisches Wissen in Personen anschaulich werden lassen. Ein Wissen aus erster Hand, denn der beharrliche Sprachenlerner konnte im Gegensatz zu den meisten Asienreisenden sich mit den Mongolen verständigen. So hat er in der Person Hagelkorns jenen Prozess der unheimlich fortschreitenden Landnahme durch chinesische Siedler abgebildet, die von den mongolischen Nomaden erst gastfreundlich geduldet wurden und diese dann immer weiter aus ihrem Grasland wegdrängten. Und in der Figur Grünmantels wird die unheilvolle Rolle chinesischer Händler begreiflich, die in Komplizenschaft mit bestechlichen Richtern arglose Kamelzüchter wie Dogolon betrogen und auch zur Verarmung mongolischer Adliger wie Dampignak beitrugen. Wie viel spezielle und nur ihm zugängliche mündliche Tradition über die Lebensumstände Dampignaks Mühlenweg verarbeiten konnte, hat Spezialisten schon interessiert; beantwortbar wird die Frage wohl erst, wenn die chinesischen Archive ihr Material über die unterdrückte mongolische Geschichte nicht mehr verschließen.
(Bis dahin, Freunde, gibt es viel Publiziertes zu lesen, und wir nähern uns dem Motiv der »edlen Räuber« vielleicht auch einmal durch die Lektüre eines chinesischen Klassikers: »Die Räuber vom Liang Schan Moor« oder die zahlreichen Anknüpfungen ans »I Ging«. Über unseren Klügeleien wollen wir aber nicht die Erlebnisse ganz anderer Authentizität vergessen, die Mühlenwegs Meisterschaft uns beim Lesen vermittelt und die dem Buch noch lange den Horizont offenhält, indem er Dampignak in einer Tragik belässt, die alle trivialen Deutungsansprüche abweist und deren Geheimnis von dem jungen Erwachsenen Christian wie eine Initiation akzeptiert wird: »Ihm wurde das Herz schwer, denn zum ersten Mal ahnte er die dunklen Gewalten, die den Menschen unempfindlich machen gegen fremdes Leid.«)
Eine ganz andere und für die Marketingstrategie des Verlags überragend wirksame Absicherung des Romanstoffs brachte Mühlenwegs Idee, dem Buch ein Vorwort von Sven Hedin voranzustellen. (Möglicherweise hat er so versucht, eine Vereinnahmung in den abendländischen Fundamentalismus abzuwehren: Ein edel gedrucktes Werbeblatt bei Herder begann mit dem Satz: »Die jüngsten Ereignisse im Fernen Osten haben unseren Blick mehr denn je auf die christliche Mission im Osten gelenkt.«) Hedins Vorwort aber wurde zum fulminanten Startschuss. Von der Erstauflage bis hin zur gekürzten Ausgabe von 1963 wiederholen die Rezensionen brav den großen Namen (»kein Geringerer als Sven Hedin«) als Beglaubigung. Für den Jugendbuchmarkt gelang so die Pflege eines Images, das dem seit Generationen bestsellernden Erzfeind, Karl May nämlich, die geographische Erfahrung des Autors voraushatte.
Mühlenweg war offenbar mit wachsender Entfernung zum erlebten Hedin von dessen Mythos eingeholt worden. Mitte der 30er-Jahre hatte er (vergeblich) versucht, den gefeierten Vortragsreisenden zwischen seinen Auftritten in Stuttgart und München nach Konstanz umzuleiten. Seine Glückwünsche zum 80. Geburtstag kamen in Stockholm im Februar 1945 mit 287 Briefen und 972 Telegrammen aus aller Welt zu liegen.
Im Nachhinein kann das »Geleitwort« Sven Hedins als eine doppeldeutige Kuriosität erscheinen. Die zweieinhalb Seiten sind für unsere Ausgabe entbehrlich, weil die blumigen Worte, mit denen der 84-jährige Schwede »den Wunsch meines lieben Freundes Fritz Mühlenweg« nach einigen einleitenden Zeilen erfüllte, nur ein wirkungsvoll krauses Herumreden um einen heißen Brei sein konnten. Der war von den Zwängen der Buchherstellung diktiert: Als Mühlenweg in einem Brief vom 17. August 1950 um ein Vorwort bat (»Ihr Wort gilt bei der deutschen Jugend«), las er bereits die ersten Korrekturfahnen. Hedin hat das Manuskript nicht gesehen und ließ sich eine Lektüre auch gern abnehmen. Ihm genügte das folgende abstract des Autors: »Es schildert die Reise zweier Jungen, eines Deutschen und eines Chinesen, nach Urumtschi. (…) Ich habe in das Buch alles hineingeschrieben, was ich dank der Reisen, die ich mit Ihnen tun durfte, von der Mongolei weiß und durch den Umgang mit Mongolen erfahren habe. Es wird also nicht gelogen.« Für uns, die wir das chinesische Rezept für höfliche Übertreibung (oben S. 465) kennen gelernt haben, klingt das nur unmerklich zu stark.
Der kluge Mann vom Bodensee wird sich nicht wenig amüsiert haben, als er im Geleitwort entdeckte, wie der Medienerfahrene die alten Gemeinsamkeiten seinerseits wirkungsvoll übertreibend retournierte (»während vieljähriger gemeinsamer Wanderungen durch Nordchina, die innere Mongolei, die Wüste Gobi und die Provinz Sinkiang«). Es ist aber auch anzunehmen, dass er seltsame Interferenzen hörte bei einem anderen Empfehlungssatz Hedins: »Gerade deshalb ist es von großem Interesse für Alt und Jung, an des erfahrenen Führers Hand einen Besuch in das verbotene Land machen zu dürfen.«
Denn der berühmte Forscher (Enkel eines Rabbiners) war ein tausendjähriges Reich lang von dessen »Führer« in Privataudienzen hofiert worden. Er hatte im August 1936 im Berliner Olympia-Stadion nach dem »Führer« eine Rede an die deutsche Jugend gehalten. Und Mühlenweg wusste aus einem kummervollen Brief des Freundes Hummel, der dem greisen Forscher ebenfalls trotz seiner politischen Idiotien treue Verehrung bewahrte, dass dieser den »Führer« nach allen Verheerungen noch zu den Großen der Weltgeschichte zählte, stur und öffentlich.
Das alles hatte Hedin im Gebiet der Westmächte nach 1945 zum verbotenen Autor gemacht; die deutsche Ausgabe seiner trotzigen Hommage an die Mächtigen des 3. Reiches (»Ohne Auftrag in Berlin«) konnte 1949 nur in einem Altnaziverlag in Buenos Aires erscheinen, der auch die Erinnerungen von Hitlers höchstdekoriertem Kampfflieger und von Goebbels’ Pressereferenten druckte. Als der Schwede den Deutschen Mühlenweg als Führer durchs Grasland empfahl, war die Zeit seiner Verfemung aber bereits vorbei: Der Koreakrieg brachte seine eigenen Rehabilitierungen für einen, der stets markant genug antikommunistisch gewesen war. Hedins Bücher waren dabei, zum Konfirmationsgeschenk der Adenauerzeit zu werden.
Mühlenwegs Dankbarkeit für die Mongolei-Erfahrung, während der schwierigen Jahre seiner Identitätssuche, verband sich mit der Person Hedins und blieb echt, über alle politischen Unvereinbarkeiten hinaus. Eine besondere Fähigkeit, Ambivalenzen zu ertragen, wie sie nur einem unabhängigen Typus möglich ist; Hannah Arendt, acht Jahre jünger als Mühlenweg, hat eine vergleichbare persönliche Treue Heidegger gegenüber bewahrt, auch über dessen Hitler-Zeit hinaus.
Was sich Mühlenweg aber bei aller Dankbarkeit nicht gefallen ließ, waren einige Schlusssätze des Reaktionärs Hedin, der auch im Geleitwort die Klaviatur des Kalten Kriegs betätigte und dem Buch eine ungut raunende politische Färbung verpasst hätte. Hedin machte er die eigenmächtige Kürzung mit einem gesamtdeutschen Argument schmackhaft, das dem merkantil erfahrenen Schriftsteller einleuchten musste: Das Buch sollte sich nicht vorab den ostdeutschen Markt verschließen. Seinem Lektor begründete er die Zensur so: »Da mein Buch ohne jede politische Absicht geschrieben wurde, möchte ich auch keine im Vorwort sehen.«
Ohne politische Absicht? Das stimmt für alle Schattierungen von Machtpolitik, die er verachtete. Im Kontext des Kalten Kriegs verhielt er sich mit seiner Ideologie-Abstinenz durchaus nicht unpolitisch. Er hätte sich mit einem anderen Unabhängigen verständigen können, der gerade ins Bodenseedorf Engelswies gezogen war: Günther Weisenborn, der 1949 in einer Rede an der Sorbonne nicht nur den deutschen Widerstand gegen Hitler zum Thema machte, sondern auch die neuen Schwierigkeiten literarischer Autoren im geteilten Land umriss: »Angesichts der enormen Erhitzung des öffentlichen Lebens, die durch den Ost-West-Konflikt in Deutschland besteht, wird jeder Satz eines Schriftstellers mit Auslegungen belastet, die manchmal die Öffentlichkeit verwirren und gelegentlich auch den Schriftsteller …« In diese politisch erhitzte Rezeption wollte sich Mühlenweg nicht durch Hedin ziehen lassen.
Er hatte bald danach aber keinen Einfluss auf eine andere Einfärbung im US-Marketing: Kurt Wolff übernahm den Roman für seinen Pantheon Verlag, setzte aber zunächst eine Kürzung auf einen »wirtschaftlichen Umfang« durch und kündigte ihn und mit dem fürs christliche Kinderzimmer akzeptableren Titel »Big Tiger and Christian« an. Sein Werbetext neutralisierte, sechs Jahre nach der Niederkämpfung Hitlerdeutschlands, den deutschen Arztsohn aus Peking zu einem »white friend« des »Chinese boy Big Tiger«. Diese erste von acht Übersetzungen kam rasch zu Ehren – und in journalistische Schieflagen. Im Dezember 1952 war in der »Neuen Zeitung« zu lesen: »Als das beste Kinderbuch für 1952 wird von der Saturday Review of Literature die Arbeit des deutschen Verfassers Fritz Mühlenberg, ›Big Tiger and Christian‹ gepriesen. Das Buch ist fast 600 Seiten stark und gibt eine anregende Schilderung von Erlebnissen in Tibet.«
Der Autor las das, von einer seiner Lesereisen heimkehrend. Fast 20 Veranstaltungen im Weihnachtsgeschäft. Noch im Jahr 1956 hat er in Innsbruck einen Saal mit 900 Zuhörern gefüllt, eine Erfolgsgeschichte der 50er-Jahre mit vielen Dimensionen. Umtriebigkeit des Ruhms und der kleine Stachel, nicht zur »richtigen Literatur« gerechnet zu werden. Am 30. März 1955 stand der schmale Mann im Straßenanzug (dunkles Hemd, ohne Krawatte) im Plenarsaal des Braunschweiger Rathauses und nahm den Friedrich-Gerstäcker-Preis entgegen (1000 Mark immerhin, ein großes Brot war damals noch für 90 Pfennige zu haben). Neben ihm im dunklen Anzug mit silbergrauer Krawatte lächelt Max Frisch (Raabe-Preis, 2000 Mark). Dass ihm ein erster Schlaganfall bald weitere Reisen verunmöglichen würde, ahnte Fritz Mühlenweg nicht. Er starb, erst 62-jährig, im September 1961.
Dieser Autor wäre ein lohnendes Kapitel Literatursoziologie der Nachkriegszeit; und erst recht ein Thema für eine Literaturkritik, die sich um Einschätzungen nicht einfach drückt, weil ein Autor mit traditionellen Masken erzählt. Er war das Gegenteil eines avantgardistisch ambitionierten Neuerers. Eine allzeit nachwachsende Innovations-Schickeria übersieht ihn leicht. Als Erzähler hat er aber mehr bewirkt als manche Namen, die in literaturgeschichtlichen Aufzählungen fortgeschrieben werden.
Vielleicht hätte er nichts dagegen gehabt, jenem Kreis »literarischer Escapisten von Format« zugerechnet zu werden, den Weisenborn in seiner Sorbonne-Rede als Produkt der neuen Ideologisierung anwachsen sah. Es gibt aber eine Literatur, die entkommt so ihrer eigenen Zeit. Mühlenweg siedelt seine Handlungen, so sachkundig und verständnisvoll sie in fremdartigen Einzelheiten sind, auf einer Ebene der »politics of experience« an. Seine hohe Kunst der erfundenen Authentizität. Da können Angst und Glück in der Mongolei und die tröstende Stimme des Erzählers mit den ganz anderen Gefährdungen noch viel späterer LeserInnen zusammentreffen. Im besten Fall hat Literatur eine die Lebensalter übersteigende Wirkung: bei immer schon insgeheim erwachsenen Kindern und bei Erwachsenen, die ihre Kindlichkeit nicht frühzeitig vergreisen lassen. – »All-Age-Literatur« nennen wir das seit Neuem, und dort kann sich Mühlenweg endlich in der passenden Gesellschaft finden: von Seift, Mark Twain, Tolkien und Saint-Exupéry, von A. A. Milnes »Winnieh-the-Pooh« und Rudyard Kiplings »Kim«.
Der Essay ist zugleich Nachwort zu Fritz Mühlenwegs „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“, 6. Auflage 2007, © Libelle Verlag.
Dieser Texte wurde außerdem veröffentlicht im „Forum Allmende“ (http://www.forum-allmende.net/index.php?page=ekkehard-faude-fritz-muehlenweg) sowie in den „Mongolischen Notizen“ der deutsch-mongolischen Gesellschaft